Leitsatz
1. Nationalsozialistischen "Rechts"vorschriften kann die Geltung als Recht abgesprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde.
2. In der Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl. I S. 772) hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muß.
3. Einmal gesetztes Unrecht, das offenbar gegen konstituierende Grundsätze des Rechtes verstößt, wird nicht dadurch zu Recht, daß es angewendet und befolgt wird.
4. Zu den fundamentalen Rechtsprinzipien gehört das Willkürverbot, das heute in GG Art 3 Abs 1 und teilweise auch in GG Art 3 Abs 3 seinen positiv-rechtlichen Ausdruck gefunden hat.
5. Verfolgte, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, haben dadurch die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren, soweit sie nicht zu erkennen geben, daß sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen wollen.
6. Auch wenn die Verfolgten eine fremde Staatsangehörigkeit erworben haben, können sie durch die Begründung eines Wohnsitzes in Deutschland oder durch einen Antrag nach GG Art 116 Abs 2 S 1 die deutsche Staatsangehörigkeit wiedererlangen.
7. Für diejenigen, die eine fremde Staatsangehörigkeit nicht erworben haben, liegt die Bedeutung des GG Art 116 Abs 2 darin, daß der deutsche Staat sie - unbeschadet des Umstandes, daß sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren haben - nicht als Deutsche betrachtet, solange sie nicht durch Wohnsitzbegründung oder Antragstellung sich auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit berufen.
8. GG Art 116 Abs 2 gilt nicht für die Verfolgten, die den 8. Mai 1945 nicht überlebt haben.
9. Diese Verfolgten können jedoch nicht anders behandelt werden als diejenigen, die das Inkrafttreten des Grundgesetzes erlebt haben. Auch bei ihnen ist daher in Betracht zu ziehen, daß sie möglicherweise ihre deutsche Staatsangehörigkeit aufgeben wollten.
Entscheidungsformel
Die Verfügung des Amtsgerichts Wiesbaden vom 8. Mai 1962 - 41 VI 586/61 -, der Beschluß des Landgerichts Wiesbaden vom 27. Juli 1962 - 4 T 252/62 - und der Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt (Main) vom 18. September 1962 - 6 W 441/ 62 - verletzen das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Artikel 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Wiesbaden zurückverwiesen.
Tatbestand
A.-I.
Die Beschwerdeführer benötigen einen Erbschein nach ihrem zuletzt in Amsterdam wohnhaft gewesenen Onkel Dr. Robert R ..., um ein Wiedergutmachungsverfahren durchführen zu können.
Dr. R ... wurde 1888 in Wetzlar geboren und war bis 1933 Rechtsanwalt und Notar in Wiesbaden. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg emigrierte er nach Amsterdam. Von dort wurde er 1942 deportiert. Da über sein weiteres Schicksal nichts bekannt ist, wird nach § 180 BEG vermutet, daß er am 8. Mai 1945 ums Leben gekommen ist. Nach der gesetzlichen Erbfolge des deutschen Rechts würde Dr. R ... zu je einem Viertel von zwei Brüdern, zu je einem Zwölftel von den drei Kindern eines vorverstorbenen Bruders, zu denen die Beschwerdeführerin zu 1) gehört, und zu je einem Achtel von den Kindern eines anderen Bruders - den Beschwerdeführern zu 2) und 3) - beerbt.
Das Amtsgericht Wiesbaden, bei dem die Beschwerdeführer einen entsprechenden Erbschein beantragt hatten, lehnte die Erteilung des Erbscheins am 8. Mai 1962 mit der Begründung ab, daß die Beschwerdeführer nicht erbberechtigt seien. Deutsches Erbrecht sei nicht anwendbar. Zwar werde ein Deutscher nach deutschen Gesetzen beerbt, auch wenn er seinen Wohnsitz im Ausland habe (Art. 24 Abs. 1 EGBGB). Dr. R ... sei aber staatenlos gewesen. Die deutsche Staatsangehörigkeit habe er nach § 2 der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl. I S. 722) - im Folgenden: 11. Verordnung (VO) - verloren und eine andere Staatsangehörigkeit nicht erworben.
§ 2 VO lautete:
Ein Jude verliert die deutsche Staatsangehörigkeit
a) wenn er beim Inkrafttreten dieser Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, mit dem Inkrafttreten der Verordnung,
b) wenn er seinen gewöhnlichen Aufenthalt später im Ausland nimmt, mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland.
Staatenlose würden nach dem Recht des Staates beerbt, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort gehabt hätten (Art. 29 EGBGB). Das sei im Falle des Dr. R ... Amsterdam gewesen. Eine Rückverweisung auf ausländisches Recht kenne das niederländische Recht bei Staatenlosen mit niederländischem Domizil nicht (Art. 74 des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuches). Nach Art. 903 des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuches erbten ausschließlich Brüder und Schwestern des Erblassers, wenn dieser verstorben sei, ohne einen Ehegatten oder Nachkommen zu hinterlassen, und die Eltern vorverstorben seien.
Die Beschwerde der Beschwerdeführer, die sich vor allem gegen die Anwendung des § 2 VO richtete, wies das Landgericht Wiesbaden mit Beschluß vom 27. Juli 1962 zurück: Die Ausbürgerung durch § 2 VO könne nur auf einen Antrag hin mit rückwirkender Kraft für nichtig erklärt werden. Das ergebe sich aus Art. 116 Abs. 2 GG, der vermeiden wolle, daß den politisch und rassisch Verfolgten die deutsche Staatsangehörigkeit ohne ihren Willen aufgedrängt werde.
Auch die weitere Beschwerde der Beschwerdeführer zum Oberlandesgericht Frankfurt (Main) blieb erfolglos. In seinem Beschluß vom 18. September 1962 vertrat das Oberlandesgericht Frankfurt (Main) die Ansicht, daß Art. 116 Abs. 2 GG abschließend regele, unter welchen Voraussetzungen die durch die 11. Verordnung erfolgten Ausbürgerungen rückgängig gemacht werden könnten. Der Grundgesetzgeber habe die Staatsangehörigkeit der Personen, die unter diese Verordnung fielen, aber beim Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht mehr am Leben gewesen seien, nicht geregelt, obwohl ihm die mit diesem Fragenkomplex zusammenhängenden Probleme aus den landesrechtlichen Regelungen, die dem Grundgesetz vorangegangen seien, bekannt gewesen seien. Daraus sei zu schließen, der Gesetzgeber habe es bei dem von Art. 116 Abs. 2 GG betroffenen Personenkreis bewußt mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit bewenden lassen wollen.
Entscheidungsgründe
II.
Die am 17. Oktober 1962 beim Bundesverfassungsgericht eingegangene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Verfügung des Amtsgerichts Wiesbaden vom 8. Mai 1962, den Beschluß des Landgerichts Wiesbaden vom 27. Juli 1962 und den Beschluß des Oberlandesgerichts Frankfurt (Main) vom 18. September 1962. Die Beschwerdeführer rügen Verletzung der Art 3 Abs 1 und 116 Abs 2 GG. Im einzelnen tragen sie vor:
Sie seien durch die angefochtenen Entscheidungen beschwert, weil sie, wenn diese Entscheidungen rechtlichen Bestand hätten, endgültig von der Erbfolge nach ihrem Onkel Dr. R ... ausgeschlossen seien.
Dieser Ausschluß verstoße aber gegen den Gleichheitssatz. Denn er stütze sich letztlich auf § 2 VO. Diese Verordnung sei eine spezifisch nationalsozialistische Unrechtsmaßnahme und von Anfang an nichtig gewesen. Dr. R ... habe daher seine deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren. Deshalb sei deutsches Erbrecht anzuwenden.
Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus Art 116 Abs 2 GG. Der Grundgesetzgeber habe mit dieser Vorschrift nicht über die Rechtswirksamkeit der 11. Verordnung entschieden, sondern nur den politisch und rassisch Verfolgten die Möglichkeit einräumen wollen, für die deutsche Staatsangehörigkeit zu optieren. Wie in den Fällen zu entscheiden sein würde, in denen die von der genannten Verordnung Betroffenen aus tatsächlichen Gründen diese Möglichkeit nicht gehabt hätten, habe der Grundgesetzgeber offengelassen.
III.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesminister der Justiz und dem Hessischen Minister der Justiz Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig und für unbegründet.
Die Verfassungsbeschwerde sei unzulässig, weil die Beschwerdeführer im Ergebnis nur behaupteten, die Gerichte hätten im Erbscheinsverfahren die Staatsangehörigkeit des Erblassers falsch beurteilt, mithin einfaches Recht falsch angewendet. Verfassungsrecht sei nicht entscheidungserheblich. Denn hätte der Erblasser die deutsche Staatsangehörigkeit nie verloren, so bedürfte es des Art 116 Abs 2 GG nicht, um zu der von den Beschwerdeführern erstrebten Anwendung deutschen Erbrechts zu gelangen. Hätte der Erblasser aber die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 2 VO verloren, so behaupteten die Beschwerdeführer selbst nicht, daß diese Staatsangehörigkeit durch das Inkrafttreten des Art 116 Abs 2 GG rückwirkend aufgelebt sei.
Die Verfassungsbeschwerde sei aber auch unbegründet. Der Grundgesetzgeber habe in Art 116 Abs 2 GG nur denjenigen ausgebürgerten Deutschen den Wiedererwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ermöglichen wollen, die nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes entweder einen Antrag auf Wiedererwerb der deutschen Staatsangehörigkeit gestellt hätten oder stellen würden oder seit dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht hätten. Da der Erblasser Dr. R. ... diesen Voraussetzungen nicht genügt habe, könne er nicht als deutscher Staatsangehöriger anerkannt werden.
B.-I.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts ist nach § 14 Abs 2 und 4 BVerfGG in Verbindung mit Nr 3 des Plenarbeschlusses vom 13. Oktober 1959 (BGBl. I S. 673) berufen, über die vorliegende Verfassungsbeschwerde zu entscheiden; denn bei der Entscheidung überwiegen Fragen der Auslegung des Art 116 Abs 2 GG.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
1. Die Beschwerdeführer können, obwohl sie im Ausland leben, Verfassungsbeschwerde erheben, soweit ihnen das Grundgesetz die in § 90 Abs 1 BVerfGG genannten subjektiven Rechte gewährt. Das ist hier der Fall. Die Beschwerdeführer rügen einen Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG, der "allen Menschen" die Gleichheit vor dem Gesetz garantiert.
2. Die Beschwerdeführer sind dadurch beschwert, daß ihnen das Amtsgericht Wiesbaden einen Erbschein über die Erbfolge nach ihrem Onkel Dr. R ... versagt hat.
3. Die Beschwerdeführer behaupten auch, durch die öffentliche Gewalt in einem ihrer Grundrechte verletzt zu sein. Die Versagung des Erbscheins ist nach ihrem Vortrag darauf zurückzuführen, daß durch die angefochtenen Entscheidungen die Frage, welche Staatsangehörigkeit Dr. R ... besessen habe, verfassungswidrig beurteilt worden sei und daß durch diese Fehlbeurteilung die Beschwerdeführer in ihrem durch Art 3 GG gewährleisteten Anspruch auf Gleichbehandlung verletzt seien. Die Entscheidungen hätten die "Ausstrahlungswirkung" des Gleichheitssatzes übersehen. Die Unrichtigkeit der Auslegung des Art 116 Abs 2 GG bestehe darin, daß die Gerichte diese Vorschrift nicht auf Art 3 GG bezogen und ihr daher einen grundrechtswidrigen Sinn gegeben hätten. Dieser Vortrag impliziert die Behauptung, daß Art 3 GG in der Person der Beschwerdeführer verletzt worden sei (vgl. BVerfGE 3, 213 (220 f.); 17, 337 (346)).
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
1. Die angegriffenen Entscheidungen gehen entsprechend einer im Schrifttum vielfach vertretenen Meinung (Schätzel, Der heutige Stand des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, AöR 74, 273 (284); Makarov, Die deutschen Ausbürgerungen 1933-1945 im internationalen Rechtsverkehr, Festschrift für Leo Raape, 1948, S. 257 (264 f.); derselbe, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, 1966, S. 201; Blessin/Ehrig/Wilden, Bundesentschädigungsgesetze, 3. Aufl. 1960, § 181, Randnr. 10) von der Annahme aus, daß Dr. R ... durch § 2 VO seine deutsche Staatsangehörigkeit verloren habe. Damit haben sie der Entscheidung eine Norm zugrundegelegt, die nur richtig beurteilt werden kann, wenn sie im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung und dem politischen Ziel des Nationalsozialismus, das deutsche und europäische Judentum auszurotten, gesehen wird.
a) Die Ausbürgerung nach der 11. Verordnung war als diskriminierender Ausschluß aus der deutschen Volksgemeinschaft gemeint:
Ein Jude, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, kann nicht deutscher Staatsangehöriger sein (§ 1 Satz 1).
Sie knüpfte allein an ein "rassisches" Merkmal an und traf zunächst vornehmlich diejenigen, denen es gelungen war, unter Gefahr für Leib und Leben der nationalsozialistischen Tyrannis zu entrinnen (§ 2). Den Juden wurden die Mittel genommen, sich im Ausland eine neue Existenz aufzubauen:
Das Vermögen des Juden, der die deutsche Staatsangehörigkeit aufgrund dieser Verordnung verliert, verfällt mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit dem Reich (§ 3 Abs 1 Satz 1). Personen, deren Vermögen gemäß § 3 dem Reich verfallen ist, können von einem deutschen Staatsangehörigen nichts von Todes wegen erwerben (§ 4 Abs 1). Schenkungen von deutschen Staatsangehörigen an Personen, deren Vermögen gemäß § 3 dem Reich verfallen ist, sind verboten (§ 4 Abs 2 Satz 1). Versorgungsansprüche von solchen Juden, die gemäß § 2 die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren, erlöschen ... (§ 10 Abs 1).
Diese Regelung kann nur so verstanden werden, daß sie dazu beitragen sollte, die zur Emigration gezwungenen Juden ins Elend zu stürzen und zugleich der Fürsorge des Auslandes zu überlassen. Die 11. Verordnung war ein Mittel, die verfolgten Juden nach Möglichkeit auch jenseits der Grenzen des nationalsozialistischen Machtbereichs zu vernichten.
b) Der Versuch, nach "rassischen" Kriterien bestimmte Teile der eigenen Bevölkerung mit Einschluß der Frauen und Kinder physisch und materiell zu vernichten, hat mit Recht und Gerechtigkeit nichts gemein.
Recht und Gerechtigkeit stehen nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Die Vorstellung, daß ein "Verfassunggeber alles nach seinem Willen ordnen kann, würde einen Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus bedeuten, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden ist. Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann" (BVerfGE 3, 225 (232)). Daher hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit bejaht, nationalsozialistischen "Rechts"-Vorschriften die Geltung als Recht abzuerkennen, weil sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde (BVerfGE 3, 58 (119); 6, 132 (198)).
c) Die 11. Verordnung verstieß gegen diese fundamentalen Prinzipien. In ihr hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muß (vgl. BGH, RzW 1962, 563; BGHZ 9, 34 (44); 10, 340 (342); 16, 350 (354); 26, 91 (93)). Sie ist auch nicht dadurch wirksam geworden, daß sie über einige Jahre hin praktiziert worden ist oder daß sich einige der von der "Ausbürgerung" Betroffenen seinerzeit mit den nationalsozialistischen Maßnahmen im Einzelfall abgefunden oder gar einverstanden erklärt haben. Denn einmal gesetztes Unrecht, das offenbar gegen konstituierende Grundsätze des Rechts verstößt, wird nicht dadurch zu Recht, daß es angewendet und befolgt wird.
2. Das zu diesen Grundsätzen gehörende Willkürverbot hat heute in Art 3 Abs 1 und teilweise auch in Art 3 Abs 3 GG seinen positiv-rechtlichen Ausdruck gefunden. Art 3 Abs 1 GG verbietet insbesondere, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich oder wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln (BVerfGE 4, 144 (155); 15, 167 (201); 18, 38 (46); 22, 254 (263)). Was im vorliegenden Zusammenhang unter Willkür zu verstehen ist, umschreibt Art 3 Abs 3 GG grundsätzlich dahin, daß niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Das so konkretisierte Willkürverbot gilt für alle Bereiche des Rechts. Die Anerkennung der Rechtswirksamkeit der Ausbürgerungen durch die 11. Verordnung würde daher gegen Art 3 Abs 1 und 3 GG verstoßen.
3. Indessen können die Staatsorgane der Bundesrepublik die Fakten nicht ungeschehen machen, welche durch die Unrechtsmaßnahmen der Nationalsozialisten geschaffen worden sind (vgl. BGH, RzW 1962, 563). Die "Ausbürgerung" von Juden im Sinne der nationalsozialistischen Gesetzgebung bleibt eine historische Tatsache, die als solche nicht nachträglich beseitigt werden kann. Dieses faktische gesetzliche Unrecht mag auch in den verschiedenen Rechtsordnungen der einzelnen Staaten verschiedene Rechtsfolgen ausgelöst haben. Hier geht es nur um die Konsequenzen, die sich aus der Nichtigkeit der 11. Verordnung für den Geltungsbereich des Grundgesetzes ergeben.
Für die Bundesrepublik handelte es sich jedenfalls nicht darum, nachträglich nationalsozialistische Maßnahmen rechtlich zu legitimieren, sondern das Unrecht auszugleichen, das den "ausgebürgerten" Verfolgten faktisch angetan worden ist. Freilich konnte die Diskriminierung, die in der einseitigen und willkürlichen "Ausbürgerung" jüdischer Mitbürger lag, nicht dadurch ausgeglichen werden, daß sich die Bundesrepublik Deutschland erneut über den Willen der Betroffenen hinwegsetzte, sondern allein dadurch, daß sie deren Willen respektierte.
4. Nach Art 116 Abs 2 GG sind "frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge ... auf Antrag wieder einzubürgern. Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben."
a) Der Verfassunggeber ging bei der Formulierung dieses Artikels davon aus, daß die 11. Verordnung von Anfang an nichtig war. Die Verfolgten haben also auf Grund der Ausbürgerung niemals ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Sie können sie allerdings aus einem anderen Rechtsgrund verloren haben, insbesondere durch den Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit. Die Bedeutung des Art 116 Abs 2 GG liegt für diesen Fall darin, daß auch dieser Personenkreis durch die Begründung eines Wohnsitzes in der Bundesrepublik Deutschland oder durch einen entsprechenden Antrag die deutsche Staatsangehörigkeit wiedererlangen kann. Für diejenigen Verfolgten, die eine fremde Staatsangehörigkeit nicht erworben haben, liegt die Bedeutung des Art 116 Abs 2 GG darin, daß der deutsche Staat sie - unbeschadet des Umstandes, daß sie die deutsche Staatsangehörigkeit durch Ausbürgerung nicht verloren haben - nicht als Deutsche betrachtet, solange sie nicht durch Wohnsitzbegründung oder Antragstellung sich auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit berufen. Insofern trägt Art 116 Abs 2 GG dem Gedanken Rechnung, daß keinem der Verfolgten gegen seinen Willen die deutsche Staatsangehörigkeit aufgedrängt werden soll.
Vor allem aber hat Art 116 Abs 2 GG offensichtlich nur die Verfolgten im Auge, die den 8. Mai 1945 überlebt haben, einen Wohnsitz in Deutschland begründen konnten oder das Inkrafttreten des Grundgesetzes erlebt haben. Er enthält keine Regelung für die vor dem 8. Mai 1945 Verstorbenen.
b) Diese Auslegung des Art 116 Abs 2 GG fügt sich dem Gesamtrahmen des Art 116 GG ein. Art 116 Abs 1 GG bestimmt, daß Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist, wer, vorbehaltlich anderweitiger gesetzgeberischer Regelung, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen auch die deutschen Verfolgten, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, soweit sie nicht zu erkennen geben, daß sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen wollen.
c) Dies war auch der Standpunkt des Parlamentarischen Rates. Aus den Gesetzgebungsmaterialien zu Art 116 Abs 2 GG ist nämlich zu entnehmen, daß der Parlamentarische Rat für die Personen, die von den Möglichkeiten des Art 116 Abs 2 keinen Gebrauch machen konnten, den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit nicht in Kauf genommen hat.
Der heutige Art 116 Abs 2 GG wurde vom Ausschuß für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates in den Grundgesetzentwurf aufgenommen. Er hatte ursprünglich folgenden Wortlaut:
Frühere deutsche Staatsangehörige, denen in der Zeit zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, sind auf ihren Antrag wieder einzubürgern.
Auf den Einwand des Abgeordneten Dr. Bergsträsser, daß diese Formulierung die Fälle nicht erfasse, in denen ein früherer Deutscher inzwischen verstorben sei und die Ausbürgerung Rechtsfolgen habe, fügte der Ausschuß zwischen "ist" und "sind": "und ihre Abkömmlinge" ein (Parlamentarischer Rat, Ausschuß für Grundsatzfragen, 30. Sitzung am 6. Dezember 1948, Wortprotokolle S. 5 ff.). Die Erstreckung der Antragsbefugnisse auf die Abkömmlinge der Verfolgten sollte also die Rechtsfolgen, die sich aus dem möglichen Ableben des Ausgebürgerten ergaben, beseitigen. Der Organisationsausschuß beließ es bei der Fassung des Grundsatzausschusses. Der Abgeordnete Dr. Katz betonte jedoch ausdrücklich, daß die Festlegung des Antragsrechtes keine rechtliche Anerkennung der nationalsozialistischen Ausbürgerung bedeute (Parlamentarischer Rat, Organisationsausschuß, 27. Sitzung vom 6. Dezember 1948, Wortprotokolle S. 35 f.).
Von der Voraussetzung, daß die nationalsozialistischen "Ausbürgerungen" krasses Unrecht waren, das es auszugleichen galt, ging auch der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates aus. Die Möglichkeit, dieses Unrecht durch eine automatische Wiedereinbürgerung "wiedergutzumachen", wurde allein deshalb verworfen, weil der Wille der Verfolgten, die keinen Wert auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit legten, respektiert werden sollte (vgl. die Ausführungen der Abgeordneten Dr. Schmid, Renner, Dr. Seebohm, Dr. v. Mangoldt, Dr. Greve und Dr. v. Brentano in der 20. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates am 7. Dezember 1948, Sten. Berichte S. 226 f.). Auf Einwendungen des Abgeordneten Renner gegen das Antragsprinzip bei der Wiedereinbürgerung führte der Abgeordnete Wagner anläßlich der dritten Lesung des Grundgesetzes in der 51. Sitzung des Hauptausschusses am 10. Februar 1949 (Sten. Berichte S. 677) aus:
"Es ist in der Tat ein unerträglicher Zustand, daß beispielsweise ein politischer Flüchtling, der wegen seiner demokratischen und hitlerfeindlichen Einstellung zur Rettung seines Lebens Deutschland hat verlassen müssen und nun nach dem Sturz des Hitlerregimes im Bewußtsein seiner Verbundenheit mit seinem Volk in die Heimat zurückgekehrt ist, der aufgrund eines Willkürakts, der niemals Rechtens gewesen sein kann, seine deutsche Staatsangehörigkeit verloren hat, nur dann wieder deutsch sein soll und kann, wenn ihm durch besonderen Einbürgerungsakt die deutsche Staatsangehörigkeit wieder verliehen wird."
Diese Ausführungen fanden nicht nur allgemeine Zustimmung, sie gaben auch den Anstoß, das Antragsprinzip zu durchbrechen und den Art 116 Abs 2 GG wie folgt zu fassen:
Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen und nicht den entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben. Im übrigen sind sie auf Antrag wieder einzubürgern.
Diese Fassung wurde nur aus redaktionellen Gründen in die geltende Fassung des Art 116 Abs 2 GG geändert (vgl. Parlamentarischer Rat, Hauptausschuß, 57. Sitzung vom 5. Mai 1949, Sten. Berichte S. 761). Die Fassung nach der dritten Lesung im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates drückt aber deutlicher als die geltende Fassung aus, daß der Parlamentarische Rat die nationalsozialistischen Ausbürgerungen grundsätzlich als nicht wirksam betrachtete. Wenn er sie nicht ausdrücklich für rechtsunwirksam erklärte, so nur, weil er den betroffenen Verfolgten die deutsche Staatsangehörigkeit nicht aufdrängen wollte.
d) Ist es der Sinn des Art 116 Abs 2 GG, den politisch, rassisch und religiös Verfolgten die deutsche Staatsangehörigkeit nicht gegen ihren Willen aufzudrängen, so ist es folgerichtig, daß die deutschen Staatsangehörigen, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge - sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben - als Deutsche behandelt werden, die ihre Staatsangehörigkeit niemals verloren haben (BVerfGE 8, 81 (87)).
e) Hiernach läßt sich Art 116 Abs 2 GG nur in den Fällen anwenden, in denen die Betroffenen die Möglichkeit haben oder hatten, ihren Willen zu bekunden und damit den einen oder den anderen der in dieser Vorschrift genannten Tatbestände zu erfüllen. Eine solche Möglichkeit bestand für die Verfolgten, die vor dem 8. Mai 1945 verstorben sind, nicht. Die Staatsangehörigkeit dieser Verfolgten fällt somit nicht unter Art 116 Abs 2 GG. Vielmehr haben sie ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren, weil die 11. Verordnung von Anfang an nichtig war.
5. Die Verfolgten, die vor dem 8. Mai 1945 verstorben sind, können nicht anders behandelt werden, als diejenigen, die das Inkrafttreten des Grundgesetzes erlebt haben. Beide Gruppen waren Opfer des nationalsozialistischen Regimes. Ein sachlich einleuchtender Grund zwischen ihnen, hinsichtlich der Folgen, die sich aus der "Ausbürgerung" ergeben, zu differenzieren, besteht nicht. Auch bei den von der 11. Verordnung betroffenen Verfolgten, die vor dem 8. Mai 1945 verstorben sind, ist daher in Betracht zu ziehen, daß sie möglicherweise ihre deutsche Staatsangehörigkeit aufgeben wollten.
Bei der in diesem Zusammenhang erforderlichen Feststellung dieses Willens und bei der Auslegung von Willenserklärungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit ist zu berücksichtigen, daß die Verfolgten Deutschland nicht freiwillig verlassen haben. Die bloße Tatsache der Emigration kann daher nicht als Indiz für die Absicht, die deutsche Staatsangehörigkeit aufzugeben, gewertet werden. Ebensowenig spricht für die Absicht der Verfolgten, ihre deutsche Staatsangehörigkeit aufzugeben, daß sie sich dem Recht ihrer Gastländer angepaßt oder am Kampf gegen das nationalsozialistische Regime teilgenommen haben. Schließlich kann auch die Haltung des Gastlandes gegenüber den deutschen Emigranten und die ausländische Reaktion auf die nationalsozialistischen Ausbürgerungen nicht für die Beurteilung der Frage entscheidend sein, ob die Betroffenen die deutsche Staatsangehörigkeit behalten wollten. Nur wenn sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben, daß die Betroffenen nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und im Bewußtsein der Möglichkeit, in ein freies, rechtsstaatlich-demokratisches Deutschland zurückkehren zu können, von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch mehr hätten machen wollen, wird man annehmen können, daß sie auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit verzichten wollten.
6. Diese Grundsätze sind in der Verfügung des Amtsgerichts Wiesbaden vom 8. Mai 1962 sowie in den Beschlüssen des Landgerichts Wiesbaden vom 27. Juli 1962 und des Oberlandesgerichts Frankfurt (Main) vom 18. September 1962 verkannt worden. Die Entscheidungen sind daher wegen Verstoßes gegen Art 3 Abs 1 und 3 GG aufzuheben. Das Amtsgericht wird den Antrag auf Erteilung eines Erbscheins unter den aufgezeigten Gesichtspunkten erneut zu prüfen haben.
Diese Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig ergangen.