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Auslegung und RechtsfortbildungMit der Auslegung und der Rechtsfortbildung fügen die Rechtsanwender Begründungselemente in die Begründung ihrer Entscheidungen ein, die sie den Gesetzen selbst nicht entnehmen können. Das gilt selbst dann, wenn man meint, den Gesetzesbefehl lediglich auszuführen. Auch "klare" Gesetzestexte tragen die Entscheidung nicht allein, wenn sie auf Sachverhalte angewendet werden, die mit anderen Begriffen als denen beschrieben sind, die der Gesetzgeber zur Normformulierung verwendet hat. Es gibt vielleicht Unterschiede in den Begründungsschwierigkeiten für Auslegungshypothesen. Die Begründungen selbst können nie den Gesetzen entnommen werden (Ausnahme: Legaldefinitionen). Die Realisierung der von der Verfassung gebotenen Gesetzesbindung muss dem Rechnung tragen. Grundregeln der Auslegung (Hermeneutik)In der juristischen Methodenlehre (als Einstiegslektüre für Studenten im Anfangsstadium besonders geeignet: Zippelius, Juristische Methodenlehre, 9. Aufl. 2005) pflegt man vier Auslegungsweisen zu unterscheiden: die philologische, die systematische, die historische und die teleologische. Die Abgrenzungen fallen von Autor zu Autor sehr unterschiedlich aus. Einen gemeinsamen Grundregelkanon kann man wie folgt formulieren:
Umstritten ist das Ziel der Auslegung wie die Rangfolge der Auslegungsregeln bei divergierenden Auslegungsergebnissen. Die Zielbestimmung führt in verfassungsrechtliche Grundprobleme der Gewaltenteilung, des Verhältnisses von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Denkbare Ziele sind: das vom Gesetzgeber GESAGTE, das vom Gesetzgeber GEWOLLTE, das (von wem gewollte oder auch nur gewusste?) VERNÜNFTIGE. Auf diese Ziele hin lassen sich dann Regeln der Auslegung formulieren, die zur Zielerreichung geeignet sind (vgl. dazu und zum folgenden Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, §§ 16 bis 18; ferner Rüßmann, Möglichkeiten und Grenzen der Gesetzesbindung, in: Behrends u.a. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, Symposion zum 80. Geburtstag von Franz Wieacker, 1990, S. 35 ff. ACHTUNG! Das ist für den Anfang eine schwere Kost!) RechtsfortbildungDie Rechtsanwendungsmöglichkeiten von Verwaltung und Rechtsprechung sind nicht auf die Auslegung der in den Gesetzen vorkommenden Begriffe beschränkt. Im Gegenteil: Eine Strukturbetrachtung tatsächlich stattfindender Rechtsanwendung könnte zu der Annahme verleiten, dass die Rechtsanwendungsmöglichkeiten prinzipiell unbegrenzt sind. Argumentationsfiguren der RechtsfortbildungStellen wir uns die Rechtsnormen in einer Wenn-Dann-Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge vor, dann haben wir folgende Möglichkeiten:
Bei der ersten Möglichkeit ist die Ableitung von R deduktiv korrekt, d.h. sie steht im Einklang mit den Schlussregeln der Logik. Bei der zweiten ist die Entscheidung solange offen, wie wir nicht das Wörtchen "nur" in die Formulierung des Rechtssatzes mit aufnehmen. Wird das getan, ist die Ableitung von Nicht-R deduktiv korrekt. Die Juristen sprechen von einem Umkehrschluss oder argumentum e contrario. Sie belassen es dabei aber nicht, sondern kennen noch zwei weitere Entscheidungssituationen:
Das könnte einen am logischen Urteilsvermögen der Juristen zweifeln lassen. Das Ganze ist aber nur Ausdruck von sog. Rechtsfortbildungsmöglichkeiten, die einer besonderen Begründung bedürfen und letztlich zu einer Veränderung der Normen führen (die Logik bleibt unangetastet). Einmal geht es um eine Analogie, d.h. um die entsprechende Anwendung der Norm auf einen Fall, auf den sie unmittelbar nicht anwendbar ist, und einmal um eine teleologische Reduktion, d.h. um die zweckgesteuerte Nichtanwendung der Norm auf einen Fall, auf den sie nach dem - zu weiten - Wortlaut anwendbar ist. AnalogieAls Beispiel für die Erweiterung des Anwendungsbereichs von Normen, für die Schaffung einer neuen Norm, können wir den Schadensersatzanspruch aus positiver Forderungsverletzung oder positiver Vertragsverletzung betrachten, der schon bald nach Inkrafttreten des BGB entwickelt worden ist und dem man bis zum Januar 2002 gewohnheitsrechtliche Geltung zusprach. Seit dem1.1.2002 ist dieses Beispiel jedoch nur noch von historischem Wert, weil mit der Schuldrechtsmodernisierung die positive Vertragsverletzung Einzug in das BGB erhielt. Der Gesetzgeber des BGB hatte Schadensersatzansprüche für die Vertragsverletzungen des Verzuges und der Unmöglichkeit der Leistung vorgesehen. Die Normen waren §§ 280 und 286 für Pflichten, die nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen, und §§ 325 und 326 BGB a.F. für Pflichten, die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. Keine Regelung enthielt das allgemeine Schuldrecht für die Verletzung von Pflichten, die neben den Leistungspflichten bestehen, für die Fälle der Schlechtleistung statt der Nichtleistung. Für diese Fälle ist das Rechtsinstitut der positiven Forderungsverletzung entwickelt und mit einer Analogie zu den Vorschriften der §§ 280, 286, 325, 326 BGB a.F. begründet worden. Teleologische ReduktionDie teleologische Reduktion führt zur Nichtanwendung einer vom Wortlaut her anwendbaren Norm in den Fällen, in denen die Norm vom gesetzgeberischen Zweck her nicht angewendet werden sollte. Das ist gleichbedeutend mit der Einführung einer Ausnahme durch den Rechtsanwender. Wir haben das am Beispiel der Formfreiheit der Vollmachtserteilung für Rechtsgeschäfte besprochen, die ihrerseits nur in einer bestimmten Form abgeschlossen werden können (Grundstückskauf in notarieller Beurkundung nach § 311b BGB). Die hinter § 167 Abs. 2 BGB stehende Idee ist die, dass die Vollmacht keiner Form bedürfe, weil sie nach § 168 BGB jederzeit widerrufen werden könne und der Vollmachtgeber durch die Widerrufsmöglichkeit hinreichend vor unüberlegten Geschäften geschützt sei. Das mag (muss) man als Entscheidung des Gesetzgebers so hinnehmen. Trifft man allerdings auf Konstellationen, in denen ein Widerruf der Vollmacht ausgeschlossen (unwiderrufliche Vollmacht) oder kaum praktikabel ist (Vollmacht mit der Befreiung vom Verbot des Selbstkontrahierens, § 181 BGB), dann greift die für die Formfreiheit leitende Idee des Gesetzgebers nicht mehr. Der Gesetzesanwender ist legitimiert, in Fortschreibung des Willens des Gesetzgebers eine Ausnahme von § 167 Abs. 2 BGB zu postulieren, d.h. diese Norm nicht anzuwenden. Analogie und teleologische Reduktion sind nicht die einzigen Möglichkeiten, die dem Rechtsanwender zur Veränderung der Normenordnung zu Gebote stehen. Das können wir an der Systematisierung der Rechtsanwendungsmöglichkeiten zeigen, die sich in dem einflussreichen Methodenlehrbuch von Karl Larenz findet. Rechtsanwendung nach LarenzKarl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, ordnet die Rechtsanwendungsmöglichkeiten nach folgenden Gesichtspunkten (daran hat sich in der Neubearbeitung der Studienausgabe durch Canaris im Jahre 1996 nichts geändert):
Das sei die Feststellung und Festlegung des Bedeutungsgehalts einer Norm im Rahmen des möglichen Wortsinns.
Das sei die Anwendung von Normen gegen den Wortsinn. Sie werde unterteilt in die
gekennzeichnet durch die Vorstellung, den Plan des Gesetzgebers gegen die planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes zur Geltung zu bringen (Analogie und teleologische Reduktion) und die
über den Plan des Gesetzgebers hinaus im Rahmen der Gesamtrechtsordnung, gerechtfertigt durch die Rücksichten auf die Bedürfnisse des Wirtschaftsverkehrs, auf die Natur der Sache und auf rechtsethische Prinzipien. Es liegt auf der Hand, dass die Juristen mit der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung ein verfassungsrechtlich außerordentlich problematisches Feld betreten. |
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