Prof. Dr. Helmut Rüßmann

Negative Feststellungsklage und Leistungsklage sowie der Zeitpunkt der endgültigen Rechtshängigkeit im Rahmen des EuGVÜ - Entscheidungs- und Klärungsbedarf durch den EuGH*

(zu OLG Hamm, 3.12.1993 - 12 U 18/92)

*Erstveröffentlichung in: IPRax 1995, 76 bis 80


Das OLG Hamm hat einen Fall von besonderer international prozeßrechtlicher Delikatesse entschieden.

I. Die Konfliktlage

Ein deutsches Unternehmen hatte in Bochum für ein französisches Unternehmen Großgetriebezahnräder gehärtet. Die Zahnräder waren als Teil des Getriebes für eine Zerkleinerungsanlage in einem Zementwerk in Marokko bestimmt. In Marokko gab es Probleme mit der Zerkleinerungsanlage. Dieserhalb wurde das französische Unternehmen vom marokkanischen Erwerber in Frankreich auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Im Rahmen dieses Verfahrens erhob der dort verklagte französische Auftraggeber des deutschen Unternehmens gegen das deutsche Unternehmen eine Klage auf Freistellung von eventuellen Ersatzverpflichtungen gegenüber dem marokkanischen Abnehmer. Das deutsche Unternehmen klagte seinerseits vor den deutschen Gerichten gegen den französischen Auftraggeber auf Feststellung, daß es zu keinerlei Gewährleistung und/oder Schadensersatz gegenüber seinem Auftraggeber verpflichtet sei. Damit war ein Fall doppelter internationaler Rechtshängigkeit geschaffen. Ihn löste das OLG Hamm ohne Beteiligung des EuGH. Darin tat es nicht recht.

Ausgangspunkt für die Bewältigung der sich aus der doppelten internationalen Rechtshängigkeit ergebenden Fragen ist Art. 21 EuGVÜ. Er hält in der Fassung nach Art. 8 des 3. Beitrittsübereinkommens von 1989 das später angerufene Gericht an, das Verfahren von Amts wegen auszusetzen, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, hat sich das später angerufene Gericht zugunsten des zuerst angerufenen Gerichts für unzuständig zu erklären. Dazu muß es die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts von Amts wegen prüfen. Diese Fassung des Übereinkommens ist für die Bundesrepublik Deutschland erst seit dem Zustimmungsgesetz vom 20. April 1994 (BGBl II 1994, S. 518) verbindlich. Das OLG Hamm hatte noch nach Art. 21 EuGVÜ in der Fassung des 2. Beitrittsübereinkommens von 1982 zu entscheiden. Danach steht die Verpflichtung zur Unzuständigkeiterklärung im Vordergrund. Die Aussetzung ist als Ausnahme für den Fall vorgesehen, daß der Mangel der Zuständigkeit des anderen Gerichts geltend gemacht wird. Nach der einen wie der anderen Fassung sind drei Fragen (nicht unbedingt in der angeführten Reihenfolge) zu beantworten.

Die erste Frage geht dahin, ob vielleicht eines der beiden angerufenen Gerichte unabhängig von der doppelten Rechtshängigkeit international unzuständig ist. Für die eigene internationale Zuständigkeit gilt das zwingend ohne jede Einschränkung, für die internationale Zuständigkeit des konkurrierenden Gerichts gilt das nur, wenn das konkurrierende Gericht das zuerst angerufene Gericht ist. Die zweite Frage geht dahin, welches Gericht das zuerst und welches das später angerufene ist. Und die dritte befaßt sich mit den Regeln der Bewältigung des Rechtshängigkeitskonflikts von Leistungsklage und negativer Feststellungsklage.

II. Die internationale Zuständigkeit der beteiligten Gerichte

Auf dem ersten Blick könnte es so scheinen, als seien die französischen Gerichte für eine Schadensersatzklage des französischen Auftraggebers gegen einen deutschen Auftragnehmer international nicht zuständig. Die Regelzuständigkeit des Art. 2 Abs. 1 EuGVÜ verweist auf die Sitzgerichte in Deutschland. In Deutschland ist auch der Erfüllungsort für die Vertragspflicht, deren Verletzung den deutschen Auftragnehmer zu Schadensersatz verpflichten soll (Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ). Der zweite Blick offenbart eine Besonderheit, die dem nationalen deutschen Prozeßrecht fremd ist. Art. 6 Nr. 2 EuGVÜ eröffnet eine Sonderzuständigkeit für Drittklagen in Gestalt von Gewährleistungs- und Interventionsklagen vor dem Gericht des Hauptprozesses. Diese Zuständigkeit kann zwar kraft Art. V 1 des EuGVÜ-Protokolls in der Bundesrepublik Deutschland nicht in Anspruch genommen werden - hier gelten vielmehr die deutschen Vorschriften über die Steitverkündung -; der von der Bundesrepublik Deutschland erklärte Vorbehalt entbindet aber nicht von der Pflicht, im Gerichtsstand des Art. 6 Nr. 2 EuGVÜ ergangene ausländische Urteile anzuerkennen (Art. V 2 des Protokolls), und damit auch nicht von der Pflicht, im Rahmen des Art. 21 EuGVÜ auf eine nach Art. 6 Nr. 2 EuGVÜ begründete Zuständigkeit Bedacht zu nehmen [1].

III. Die Bestimmung des zeitlichen Vorrangs der Klagen

Wer ein Ziel vor einem anderen erreicht, ist dann eine leicht zu beantwortende Frage, wenn es um ein und dasselbe Ziel geht. Das für Art. 21 EuGVÜ maßgebliche Ziel hat der EuGH übereinkommensautonom mit der “endgültigen Rechtshängigkeit” bestimmt [2], die Festlegung der Kriterien für die endgültige Rechtshängigkeit aber dann den nationalen Verfahrensrechten der Gerichte überlassen, bei denen Verfahren anhängig gemacht werden [3]. Das führt zu einer Zieldivergenz, die Manipulationen Tür und Tor öffnet und den Gerichten bestimmter Staaten einen sachlich nicht gerechtfertigten Zuständigkeitsvorrang einräumt. Kläger, die dort klagen, befinden sich in der Rolle des Igel, der auch gegenüber dem schnellsten Hasen sein “Ich bin schon da” geltend machen kann. Der vorliegende Fall hätte dem OLG Hamm dringender Anlaß sein sollen, dem EuGH Gelegenheit zur übereinkommensautonomen Festlegung auch der Kriterien für die endgültige Rechtshängigkeit zu geben.

Bislang beklagten deutsche Autoren die Benachteiligung der vor deutschen Gerichten klagenden Kläger durch den Rückgriff auf die nationalen Regeln endgültiger Rechtshängigkeit für die Bestimmung des zeitlichen Vorrangs [4]. Die vorliegende Fall gibt uns Gelegenheit, die Benachteiligung der vor französischen Gerichten klagenden Kläger zu beklagen. Die deutschen Gerichte geraten im Verhältnis zu den Staaten ins Hintertreffen, die die endgültige Rechtshängigkeit schon mit dem Eingang der Klage bei dem Gericht und nicht erst mit der Zustellung der Klage beim Beklagten eintreten lassen. Die französischen Gerichte stehen noch hinter den deutschen zurück, weil nicht schon die Zustellung der Klage beim Beklagten, sondern erst die nach der Zustellung erfolgende Registrierung der Klage bei Gericht die endgültige Rechtshängigkeit begründen soll.

1. Der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit nach französichem Recht

Den Zeitpunkt der Rechtshängikeit nach französichem Recht hat mein Fakultätskollege Claude Witz, französischer Professor des französischen Privatrechts an der Universität des Saarlandes, dem OLG Hamm in einem Gutachten dargelegt. Ich zitiere (mit Übernahme der Fußnoten):

“Zunächst stellt der Kläger dem Beklagten mit Hilfe eines Gerichtsdieners die Klageschrift mit der Aufforderung, vor dem Richter zu erscheinen, zu (Art. 54, 55 NCPC). Dieser Vorgang heißt “assignation”. Das Gericht selbst weiß zu diesem Zeitpunkt nichts von der Klage.

Die Inanspruchnahme des Gerichts (saisine du tribunal) erfolgt ausschließlich durch Übergabe der mit einem Zustellungsnachweis versehenen Klageschrift bei der Geschäftsstelle des Gerichts. Die bei Gericht übergebene Klageschrift heißt “second original” - denn das “erste Original” befindet sich beim Beklagten.

Die Übergabe des “second original” an den Geschäftsstellenbeamten heißt “placement de l'affaire”. Der Geschäftsstellenbeamte trägt sodann Eingangsdatum und einige weitere Angaben über die Klage in das Generalregister des Gerichts (répertoire général) ein (Art. 726 NCPC). Gemeinhin wird das “répertoire général” in Anlehnung an den traditionellen Begriff auch “le rôle” genannt. Die Eintragung in diese “rôle” heißt daher “la mise au rôle”, die Sache ist “enrôlée”. Sobald dieser Vorgang abgeschlossen ist, wird die Angelegenheit nach dem Geschäftsverteilungsplan an den zuständigen Richter bzw. die zuständige Kammer weitergegeben.

b) Lange Zeit ist die Rechtsprechung wie selbstverständlich davon ausgegangen, daß die Klage am Tag der “assignation”, also der Zustellung der Klage an den Beklagten, erhoben worden ist. [5] Zu diesem Zeitpunkt trat, nach damaliger Ansicht, Rechtshängigkeit ein. Insbesondere bei Verfahren vor Handelsgerichten wurde es für sinnvoll gehalten, nicht auf die “mise au rôle” abzustellen, da die Handelsgerichte ihre Verfahren üblicherweise erst am Vorabend einer mündlichen Verhandlung ins Gerichtsregister eintragen, also zum fast spätestmöglichen Zeitpunkt. [6]

Die “mise au rôle” wurde als verwaltungstechnische Formalität betrachtet, die keinerlei prozessualen Folgen nach sich ziehen könne.

c) In einer Reihe von Urteilen hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung seit 1984 von dieser Ansicht abgewendet. Es begann mit einem Urteil der auf das Prozeßrecht spezialisierten 2. Kammer der Cour de Cassation vom 29.02.1984 [7], das zunächst von der Literatur mit Vorsicht aufgenommen [8], dann aber schon am 18.12.1984 von der Kammer für Handelssachen der Cour de Cassation bestätigt wurde. [9] Waren bis dahin noch Zweifel geäußert worden [10], die insbesondere daher rührten, daß die Cour de Cassation ihre Urteile nicht oder jedenfalls kaum zu begründen pflegt, sondern lediglich das Ergebnis ihrer Überlegungen in den Raum stellt und jegliche Interpretation der Literatur überläßt, so kann spätestens seit dem dritten Urteil der Cour de Cassation vom 10.12.1985 [11] davon ausgegangen werden, daß im Grundsatz die Rechtshängigkeit mit der “mise au rôle” eintritt [12]. Damit ist die “assignation” wieder auf ihre eigentliche Aufgabe zurückgeführt. Sie soll den Beklagten von der Klage in Kenntnis setzen und ihn vor den Richter rufen. Prozessuale Folgen können zu diesem Zeitpunkt schon deshalb nicht eintreten, weil der Richter von der Klageerhebung noch gar nichts weiß. Er erfährt hiervon erst im Zeitpunkt des “placement”, also der Einreichung der Zweitschrift der Klage mit dem Zustellungsvermerk bei der Geschäftsstelle des Gerichts.

Der Grund für diese Änderung der Rechtsprechung kann nur vermutet werden. Eine denkbare Erklärung liegt in einer Veränderung der Rolle der Gerichte. Da früher die Parteien einen Prozeß mehr oder minder selbständig führten und der Richter lediglich die Rolle des Vermittlers spielte, machte es Sinn, den Beginn des Prozesses auf den Tag zu legen, an dem der Kläger die Initiative ergriff und durch die “assignation” Klage erhob. Heutzutage spielt der Richter jedoch im Prozeß eine sehr viel aktivere Rolle. Von daher halten es einige Autoren für “aus psychologischen Gründen unausweichlich”, daß das Prozeßrechtsverhältnis seinen Anfang erst dann haben kann, wenn das Gericht mit der Sache befaßt ist - also mit dem “placement/mise au rôle”” [13].

Ich habe so wenig Anlaß wie das OLG Hamm, an der Richtigkeit dieser - in Frankreich allerdings erst in den letzten Jahren eingeführten - Rechtsauffassung zu zweifeln.

2. Die Notwendigkeit einer übereinkommenskonformen Festlegung des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit

Die Richtigkeit dieser Rechtsauffassung macht indessen die Verweigerung der nicht an nationale Eigenheiten gebundenen, übereinkommensautonomen Bestimmung des für Art. 21 EuGVÜ maßgeblichen Zeitpunkts unerträglich. Im internationalen Geschäftsverkehr französischer Unternehmen mit etwa britischen Unternehmen ist die im romanischen Rechtskreis verbreitete Gewährleistungsklage, für die Art. 6 Nr. 2 EuGVÜ eine besondere internationale Zuständigkeit eröffnet, das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Das britische Unternehmen kann den Zeitraum zwischen der Zustellung der Gewährleistungsklage im Vereinigten Königreich und ihrer Registrierung in Frankreich dazu nutzen, eine negative Feststellungsklage bei den Gerichten Ihrer Majestät einzureichen, und damit, folgt man dem OLG Hamm, für die französischen Gerichte die Sperre des Art. 21 EuGVÜ auslösen. Das widerspricht dem Geist des EuGVÜ. Abhilfe darf nicht von der Vereinheitlichung der nationalen Rechtshängigkeitsregeln erwartet werden [14]; sie ist durch eine übereinkommensautonome Festlegung des für Art. 21 EuGVÜ maßgeblichen Zeitpunkts durch den EuGH vorzunehmen [15]. Dazu hätte das OLG Hamm den EuGH mit einer Vorlage auffordern sollen.

In welcher Weise alsdann der EuGH den maßgeblichen Zeitpunkt festlegen sollte, ist damit noch nicht bestimmt. Rauscher [16] votiert für den den frühest möglichen Zeitpunkt der Einreichung der Klage bei Gericht; Isenburg-Epple [17] schlägt den Zeitpunkt der Zustellung der Klage an den Beklagten vor. Beide Auffassungen haben gute Gründe für sich. Die besseren Gründe sprechen m.E. für den Zeitpunkt der Zustellung, weil, wie die Ausführungen von Claude Witz zum französischen Recht zeigen, die Einreichung der Klage bei Gericht nicht nur vor, sondern auch nach der Zustellung der Klage an den Beklagten liegen kann.

Die Möglichkeit zur Vorlage an den EuGH war dem OLG Hamm ohne weiteres gegeben, wenn auch nicht aus Art. 177 EG-Vertrag, wie das OLG Hamm in seiner Entscheidung meint, sondern aus Art. 2 Nr. 2 des Luxemburger Protokolls betreffend die Auslegung des EuGVÜ [18].

IV. Das Verhältnis von negativer Feststellungsklage und Leistungsklage

Das OLG Hamm hat sich bei der Bestimmung des Zeitpunkts an das bisher vom EuGH für richtig erachtete Regelsystem gehalten und war damit auf die Frage nach dem Verhältnis von negativer Feststellungsklage und Leistungsklage gestoßen, deren Beantwortung es ein weiteres Mal besser in die Hände des EuGH gelegt hätte: Wie ist zu verfahren, wenn die zeitlich erste Klage eine negative Feststellungsklage ist?

Das OLG Hamm betrachtet diese Frage als durch die Entscheidung des EuGH in Sachen Gubisch/Palumbo [19] als geklärt. Dem ist indessen nicht so. In Gubisch/Palumbo war die Leistungsklage die zeitlich erste Klage. Die Besonderheit dieses Falles lag darin, daß der EuGH den Anspruchsbegriff in Art. 21 EuGVÜ übereinkommensautonom und in einer Weise bestimmt hat, die mit der deutschen Streitgegenstandslehre nichts gemein hatte. Das haben einige Autoren als Befreiung von “unserem technischen, ausgeklügelten Streitgegenstandsbegriff” sowie als Abschied von den “Spitzfindigkeiten nationaler Streitgegenstandslehren” begrüßt [20] und mit der Behauptung verbunden, die übereinkommensautonome weite Auslegung des Anspruchsbegriffs statte auch die negative Feststellungsklage mit der Sperrwirkung des Art. 21 EuGVÜ gegenüber der Leistungsklage aus [21]. Andere teilen die Auffassung, daß mit der Entscheidung des EuGH in Sachen Gubisch/Palumbo die negative Feststellungsklage mit der Sperrwirkung des Art. 21 EuGVÜ gegenüber der Leistungsklage ausgestattet sei, und lehnen, weil sie das für unangemessen halten, die Entscheidung des EuGH ab [22]. Doch hatte der EuGH nicht über einen Fall mit der Erstrechtshängigkeit der (präjudiziellen, ja bis auf die Rechtsschutzform identischen) negativen Feststellungsklage im Verhältnis zur Leistungsklage zu entscheiden. Teile der Literatur und mit ihm das OLG Hamm ziehen Folgerungen aus den zu einer anderen Fallsituation gegebenen Begründungen des EuGH. Eine Entscheidung des EuGH, die die Frage verbindlich klärt, steht aus [23].

Es ist auch keineswegs sicher, wie sie ausfallen wird. M. Wolf [24] etwa erwägt für den Fall der Erstrechtshängigkeit einer präjudiziellen Frage und der Zweitrechtshängigkeit der Leistungsklage eine Rechtsfortbildung dahin, daß das zuerst angerufene Gericht sich für unzuständig zu erklären habe, verwirft diese Idee aber als auch im Wege der Rechtsfortbildung nicht durchführbar. Er will statt dessen - ebenfalls im Wege der Rechtsfortbildung - dem später angerufenen Gericht den Zwang zur Klageabweisung der bei ihm erhobenen Leistungsklage ersparen und den Weg in die Aussetzung öffnen. Und Leipold [25] spricht der negativen Feststellungsklage in Übereinstimmung mit dem deutschen Zivilprozeßrecht die Sperrwirkung gegenüber der Leistungsklage auch im europäischen Zivilprozeßrecht ab. Das hat entweder zur Folge, daß zwei Prozesse mit der Gefahr sich sogar im rechtskraftfähigen Inhalt widersprechender und dann nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ nicht anerkennungsfähiger Entscheidungen nebeneinander herlaufen, oder aber zur Folge, daß der später rechtshängig gewordene Leistungsstreit ausgesetzt werden muß, wobei die Rechtsgrundlage für die Aussetzung im europäischen Zivilprozeßrecht in Art. 22 EuGVÜ zu finden oder erst noch qua Rechtsfortbildung zu schaffen wäre, oder aber zur Folge, daß eine der Klageerfolgsvoraussetzungen für die negative Feststellungsklage, das Rechtsschutzinteresse, mit der Rechtshängigkeit der Leistungsklage wegfällt.

Alle Varianten fordern die Beantwortung von Auslegungsfragen zum EuGVÜ, zu der der EuGH berufen ist und zu der das OLG Hamm ihn hätte anrufen sollen.

1. Entscheidung ohne Beteiligung des EuGH?

Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, daß diese Auslegungsfragen für die Entscheidung des Erstgerichts nichts austrügen und allenfalls vom Zweitgericht dem EuGH zur Beantwortung vorzulegen seien. Art. 21 EuGVÜ spricht in der Tat das Zweitgericht an. Es hat sich für unzuständig zu erklären oder die Sache auszusetzen, wenn die Zuständigkeit des Erstgerichts noch nicht geklärt ist. Bei genauerer Betrachtung kommt indessen auch das Erstgericht nicht daran vorbei, für seine Entscheidung die Frage zu beantworten, was das Zweitgericht zu tun habe. Hat das Zweitgericht sich für unzuständig zu erklären (Vorschlag Schack und Kropholler), darf das Erstgericht in der Sache über die negative Feststellungsklage entscheiden. Hat das Zweitgericht sich nicht für unzuständig zu erklären und die Sache auszusetzen (Vorschlag Wolf), kann das Erstgericht ebenfalls in der Sache über die negative Feststellungsklage entscheiden. Hat das Zweitgericht dagegen die uneingeschränkte Entscheidungskompetenz über die bei ihm rechtshängige Leistungsklage (Vorschlag Leipold), so muß um der Vermeidung sich in ihrem rechtskraftfähigen Inhalt widersprechender Entscheidungen willen das Erstgericht von einer Entscheidung in der Sache Abstand nehmen, indem es den nachträglichen Wegfall des Feststellungsinteresses annimmt.

Das OLG Hamm stellt sich zu Unrecht auf den Standpunkt, der EuGH habe die Auslegungsfrage im Sinne der Rechtshängigkeitssperre durch die negative Feststellungsklage entschieden. Dem Vorlagegebot hätte es deshalb nur dann noch ausweichen können, wenn ihm alle Varianten der Auslegungsmöglichkeiten das Recht gegeben hätten, in der Sache selbst zu entscheiden. Soweit es sich in einer Art Hilfserwägung das Recht, in der Sache selbst zu entscheiden, auch für den Fall zubilligt, daß die negative Feststellungsklage die Leistungsklage nicht sperrt, begibt es sich auf ein mehr als zweifelhaftes Terrain. Es entnimmt den Ausführungen des Sachverständigen Claude Witz, daß die Klagerücknahme in Frankreich bis zum Ende der dortigen mündlichen Verhandlung noch einseitig möglich sei. Im Gutachten selbst aber heißt es, daß das der Klagerücknahme ohne Anspruchsverlust entsprechende “désistement d'instance” oftmals der Zustimmung des Beklagten bedürfe, die Frage aber nicht vertieft werde, da von einer Zustimmung durch die in Fankreich beklagte deutsche Klägerin auszugehen sei. Der Gutachter hat mit anderen Worten zur Frage der einseitigen Klagerücknahme ohne Anspruchsverlust gar nicht Stellung genommen. So bleibt als letzter Gesichtspunkt für ein ausnahmsweise bestehendes rechtliches Interesse an der Weiterverfolgung der negativen Feststellungsklage trotz anderweitiger Rechtshängigkeit der Leistungsklage die Entscheidungsreife der negativen Feststellungsklage. Wie immer man zu diesem Gesichtspunkt stehen mag [26], es bleibt ein schaler Beigeschmack, wenn die Entscheidungsreife ihrerseits mit mangelhaftem Vortrag zum Anspruch begründet wird, auf den eine anwaltlich vertretene Partei auch nicht hingewiesen werden müsse. Die anwaltlich vertretene Partei stand doch auf dem sicherlich nicht unvertretbaren Standpunkt, daß die Gerichte in Deutschland angesichts des in Frankreich zusammen mit einem Beweissicherungsverfahren anhängigen Leistungsprozesses über den Anpruch nicht zu entscheiden hätten. Wenn man dann dennoch in der Sache entscheiden will, sollte man auch dafür sorgen, “daß die Parteien über alle erheblichen Tatsachen sich vollständig erklären” (§ 139 Abs. 1 ZPO).

2. Richtpunkte für eine Entscheidung des EuGH zum Verhältnis von negativer Feststellungsklage und späterer Leistungsklage

Die folgenden Richtpunkte dürfen auf keinen Fall vernachlässigt werden:

Wer diese Richtpunkte als unverzichtbar anerkennt, hat leider noch nicht das Regelsystem festgelegt, in dem die Gesichtspunkte zur Geltung gebracht werden. Sie lassen sich in verschiedenen Regelsystemen mit und ohne Sperrwirkung der negativen Feststellungsklage zur Geltung bringen.

a. Sperrwirkung der negativen Feststellungklage

Wenn man die negative Feststellungsklage mit einer Sperrwirkung ausstattet, vermeidet man auf jeden Fall sich widersprechende Entscheidungen. Auf dem ersten Blick scheinen die Folgerichtpunkte verletzt. Dem ist indes nicht so. Einen Leistungstitel kann der Anspruchsinhaber immer noch bekommen. Im konkurrierenden Land allerdings erst und nur, wenn die Rechtshängigkeitssperre weggefallen ist und dem Anspruch auch nicht die Rechtskraft des der negativen Feststellungsklage stattgebenden Urteils entgegensteht.

Die im klageabweisenden Feststellungsurteil enthaltene rechtskräftige Feststellung des Anspruchs kommt dem Anspruchsinhaber im konkurrierenden Land über Art. 26 EuGVÜ zugute. Schwierigkeiten könnte es mit der Verjährung geben, wenn es nicht zu einer sachlichen Entscheidung über die negative Feststellungsklage kommt und der negativen Feststellungsklage bzw. der Verteidigung gegen sie keine verjährungsunterbrechende Wirkung beigemessen wird [27]. Um diesen Schwierigkeiten vorzubeugen, bleibt dem Beklagten der negativen Feststellungsklage immer noch die Erhebung einer Leistungswiderklage im Verfahren über die negative Feststellungsklage [28].

b. Keine Sperrwirkung der negativen Feststellungklage

Wenn man der negativen Feststellungsklage die Sperrwirkung gegenüber der späteren Leistungsklage abspricht, trägt man den Gesichtspunkten der Vollstreckungstitelbeschaffung und der Fristwahrung für den Anspruchsinhaber problemlos Rechnung. Schwierigkeiten scheint in diesem Rahmen die Vermeidung sich widersprechender Urteile zu machen. Doch ist auch dem nicht so. Zum einen gibt es hier - jedenfalls im deutschen Recht - die Sonderlösung mit dem Wegfall des Feststellungsinteresses, die die negative Feststellungsklage unzulässig macht, wenn die spätere Leistungsklage nicht mehr einseitig zurückgenommen werden kann [29]. Klageabweisung und Kosten der negativen Feststellungsklage kann der Kläger der negativen Feststellungsklage nur mit einer Erledigungserklärung vermeiden. Zum anderen könnte man an einen Zwang zur Aussetzung des Verfahrens über die Leistungsklage denken, bis eine rechtskräftige Entscheidung über die zuerst erhobene negative Feststellungsklage vorliegt [30].

3. Ergebnis

Mir scheint der im europäischen Konzert eleganteste Weg der zu sein, der der negativen Feststellungsklage Sperrwirkung verleiht und den Beklagten für die Dauer des Verfahrens der negativen Feststellungsklage auf die Erhebung der Leistungswiderklage verweist. Um Mißklänge zu vermeiden, müßte dem die übereinkommensautonome und einheitliche Festlegung des für Art. 21 EuGVÜ maßgeblichen Zeitpunkts zur Seite gestellt werden. Ob dieser früh oder spät liegt, mag vielleicht die Tonlage ändern. Für die Harmonie sorgt allein die Einheitlichkeit.


Footnotes

[1] Vgl. Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 1991, § 8 Rdnrn. 362 ff.

[2] Entscheidung in Sachen Gubisch/Palumbo vom 8.12.1987 - Rs 144/86 - IPrax 1989, 157 = RIW 1988, 818.

[3] Entscheidung in Sachen Zelger/Salinitri vom 7.6.1984 - Rs 129/83 - EuGHE 1984, 2397 = IPrax 1984, 336.

[4] Siehe etwa Schack, IPrax 1991, 270, 271 f.

[5] Solus/Perrot, Droit Judiciaire Privé, tome II, Paris 1973, S. 840, Rdn. 811.

[6] Bordeaux, 1 juin 1965, J.C.P. 1965. II. 14353, obs. J.A.; Rev. trim. dr. civ. 1966, 138, obs. Hébraud; Rev. trim. dr. com. 1965, 890, obs. Houin; anders: Pau, 13 juin 1962, Rev. trim. dr. com. 1963, 376, obs. Houin.

[7] Cass. Civ. 2ème, 29 fév. 1984, Bull. civ. II nº 43, p. 29; JCP 1984, IV, 147.

[8] Perrot, Rev. trim dr. civ. 1984, 550 (559).

[9] Cass. com., 18. déc. 1984, Bull. civ. IV, nº 356, p. 290.

[10] Perrot, Rev. trim. dr. civ. 1985, 445-446.

[11] Cass. civ., 3ème, D. 1986, IR, S. 225.

[12] so nunmehr auch die Literatur: Solus/Perrot, Droit Judiciaire Privé, tome III, Paris 1991, Rdn. 164; J. Cl. proc. civ., Fasc. 213-2, S. 3 (1991).

[13] Perrot, Rev. trim. dr. civ. 1986, 633 (635).

[14] Darauf setzt Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, 4. Aufl. 1994, Art. 21 Rdnr. 11 mit Hinweisen darauf, daß in England nach englischem Recht für die Zwecke der Art. 21 und 22 EuGVÜ auf die Zustellung der Klageschrift an den Beklagten (service of the writ) und nicht auf die Siegelung der Klage durch den Gerichtsbeamten (issue of the writ) abzustellen sei. Doch ist diese Frage in England umstritten.

[15] So auch schon Rauscher, IPrax 1985, 317, 319 ff. und Isenburg-Epple, Die Berücksichtigung ausländischer Rechtshängigkeit nach dem Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen vom 27.9.1968, 1992, S. 120 ff..

[16] IPrax 1995, 317, 319 ff.

[17] A.a.O. (Fn. ), S. 126 ff.

[18] Zur Auslegungskompetenz des EuGH für das EuGVÜ Isenburg-Epple (Fn. ), S. 43 ff.

[19] Oben Fn. .

[20] So Schack, IPrax 1989, 139, 140 und IPrax 1991, 270, 272.

[21] Neben Schack auch Linke, RIW 1988, 822, 224; Kropholler, a.a.O. (Fn. ), Art. 21 Rdnr. 7.

[22] Isenburg-Epple (Fn. ), S. 205 ff.

[23] So auch Leipold, Gedächtnisschrift für Peter Arens, 1993, S. 227, 246.

[24] Festschrift für Karl Heinz Schwab, 1990, S. 561, 573 f.

[25] Gedächtnisschrift für Peter Arens, 1993, S. 227, 249.

[26] Für ihn kann insbesondere dann viel sprechen, wenn im Verfahren über die negative Feststellungsklage schon eine umfangreiche Beweisaufnahme stattgefunden hat, während der später eingeleitete Leistungsprozeß noch ganz am Anfang steht.

[27] Für eine solche Wirkung Baltzer, Die negative Feststellungsklage aus § 256 I ZPO, 1980, §§ 12 und 28; dagegen die h.M. vgl. BGHZ 72, 23 mit weiteren Nachweisen.

[28] Für den Zwang zur Erhebung der Leistungswiderklage im nationalen Verfahrensrecht Lüke in: Münchener Kommentar zur ZPO, 1993, § 256 Rdnr. 61 und § 261 Rdnr. 66; im europäischen Zivilprozeßrecht Schack, IPrax 1989, 139, 140.

[29] Für die h.M. BGHZ 99, 340, 342.

[30] So Stein-Jonas-Schumann, Zivilprozeßordnung, 20. Aufl. 1986, § 256 Rndr. 126.