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Fallgruppen

Wenn auch Fallgruppen allein nicht ausreichen, den Sittenverstoß hinreichend zu begründen, so ist doch ihre Kenntnis und ihr Verständnis gerade beim generalklauselartig gefassten § 138 Abs. 1 BGB von unschätzbarem Wert. Deshalb soll nun auf einige wichtige anerkannte Fallgruppen eingegangen werden.

Knebelungsverträge

Knebelungsverträge sind Vereinbarungen, die dem Schuldner jeden wesentlichen geschäftlichen oder persönlichen Handlungsspielraum nehmen. Derartige Verträge sind sittenwidrig.

Der Grund der Sittenwidrigkeit liegt dabei in diesen Fällen weniger in der herrschenden Moral (sozialethischer Inhalt), als in dem in unserer Rechtsordnung geltenden Grundprinzip, dass dem einzelnen eine freie Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich sein soll (rechtsethischer Inhalt). Dieses Prinzip ist grundrechtlich (vor allem: Art. 2 GG für die persönliche und Art. 12 GG für die berufliche Betätigung) verankert. Diese Grundrechte finden hier über § 138 Abs. 1 BGB zur erwähnten mittelbaren Drittwirkung.

Zu beachten ist, dass im Rahmen der Privatautonomie eine vertragliche Bindung und damit eine Selbstbeschränkung der Handlungsfreiheit grundsätzlich gerade möglich ist. Ein sittenwidriger Knebelungsvertrag liegt dementsprechend erst dann vor, wenn in den vertraglichen Regelungen eine erhebliche Beschränkung der Handlungsfreiheit zu sehen ist.

Beispielsfall: Ein Hotelier, der bei einer Bank einen Kredit aufnimmt, muss dieser zur Sicherheit nicht nur das gesamte Hotel übereignen, sondern wird überdies verpflichtet, vor jeder unternehmerischen Entscheidung die Zustimmung der Bank einzuholen.
Diese Vereinbarung nimmt dem Hotelier jeglichen Raum zur freien Ausübung seines Gewerbebetriebs und ist somit als sittenwidriger Knebelungsvertrag anzusehen.

Nah mit der Schuldnerknebelung verwandt, ist der Fall der Übersicherung. Hier lässt sich der Gläubiger Vermögensgegenstände des Schuldners übertragen, deren Wert den geschuldeten Betrag wesentlich übersteigt.

Beispiel: A übereignet dem B zur Sicherung eines Kredits in Höhe von 10.000,00 sein gesamtes Warenlager im Wert von 500.000,00 .

Derartige Sicherungsverträge führen dazu, dass dem Schuldner die Möglichkeit genommen wird, über das gebundene Vermögen zu verfügen. Damit kann der Schuldner die in Frage stehenden Vermögenswerte zum einen nicht mehr einsetzen, um andere Gläubiger zu befriedigen. Zum anderen kann er sie auch nicht als Sicherheiten für neue Verbindlichkeiten anbieten, was - zumindest dann, wenn wesentliche Teile seines Vermögens durch die Übersicherung erfasst sind - dazu führt, dass seine Möglichkeiten, neue Kredite zu erhalten, sehr gering sind. Zu bedenken ist weiterhin, dass der Gläubiger eine den Wert der gesicherten Forderung weit übersteigenden Sicherung nicht benötigt, und somit kein rechtlich schützenswertes Interesse an einer solchen Übersicherung hat. Damit ist die in der Übersicherung liegende Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Schuldners als unangemessen und sittenwidrig anzusehen.

Schädigung Dritter

Die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts kann auch darin begründet sein, dass die Parteien den Zweck verfolgen, einen Dritten zu schädigen, bzw. dass eine solche Schädigung durch die Parteien vorausgesehen und in Kauf genommen bzw. infolge grober Fahrlässigkeit nicht vorausgesehen wird.

Als klassisches Beispiel ist die Gläubigergefährdung durch Kredittäuschung zu nennen. Ein typischer Fall einer solchen Gläubigergefährdung liegt vor, wenn ein Gläubiger den Schuldner kurzfristig mit Geld ausstattet, damit dieser gegenüber Dritten kreditwürdig erscheint.

Zu beachten ist, dass es in dieser Fallgruppe entscheidend auf die subjektiven Absichten der Beteiligten ankommt. So ist etwa die unsichtbare Sicherung eines Gläubigers mit Vermögenswerten allein noch keine sittenwidrige Gläubigergefährdung, denn es liegt in der Natur der gebräuchlichsten Sicherungsmittel (Sicherungszession, Sicherungsübereignung, Eigentumsvorbehalt), dass sie nach außen nicht ohne weiteres erkennbar sind.

Kommerzialisierung des höchstpersönlichen Bereichs

Nach dem in unserer Kultur und auch in unserer Rechtsordnung (vgl. insb. Art. 1 Abs. 1 GG) angelegten Menschenbild, gibt es einen Bereich von Handlungen und Leistungen, die der völlig freien Entscheidung des Einzelnen unterliegen und insbesondere nicht von materiellen Vorteilen abhängig gemacht werden sollen.

Beispiele für diesen höchstpersönlichen Bereich, dessen Kommerzialisierung sich verbietet, sind insbesondere Glaubens- und Gewissensfragen, der Sexualbereich oder der Handel mit Titeln. Demnach ist etwa die arbeitsvertragliche Verpflichtung eines Arbeitnehmers, eine bestimmte Religion anzunehmen oder zu behalten, als sittenwidrig anzusehen (Besonderheiten gelten hier jedoch für Arbeitnehmer der Religionsgemeinschaften!). Auch die Verpflichtung der Prostituierten, gegen Geld den Geschlechtsverkehr durchzuführen, wird als sittenwidrig angesehen. Hier sollte es in der Tat keinen Rechtszwang zur Durchführung des Geschlechtsverkehrs geben. Wenn es aber zum verabredeten Geschlechtsverkehr gekommen ist, stellt sich die Frage. ob die Prostituierte nicht gegen den zahlungsunwilligen Kunden die Zwangsmittel des Rechts sollte einsetzen können. Nunmehr würde es ja nur um die Durchsetzung eines Zahlungsanspruchs gehen. Eine solche Wertung läge auf der Linie der Vorstellungen des Gesetzgebers, den Prostituierten den Schutz des Rechts zuteil werden zu lassen. Sie ist mit dem Prostitutionsgesetz vom 20. Dezember 2001 zum 1. Januar 2002 Gesetz geworden.

In die Fallgruppe des höchstpersönlichen Bereichs gehören auch die sog. Telefonsex-Verträge. Die Sittenwidrigkeit von Telefonsex-Verträgen wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt. Der BGH hält die Telefonsex-Verträge zwischen Anbieter und Kunden für sittenwidrig, da ein bestimmtes Sexualverhalten der Kunden kommerziell ausgenutzt, die jeweilige Mitarbeiterin des Anbieters als Person zum Objekt und der Intimbereich zur Ware gemacht würde (BGH, NJW 1998, 2895 (2896) mit vielen Nachweisen). Die Gegenansicht weist darauf hin, dass - anders als bei der Prostitution oder bei einer Peep-Show - beim Telefonsex die Anbieterin dem Anrufer nicht ausgeliefert sei, sondern ihr noch ausreichend Fluchträume verblieben; die Anbieterin werde aufgrund des Fehlens eines unmittelbaren persönlichen Kontakts nicht zur bloßen Ware. Hiergegen wendet der BGH wiederum ein, dass die Mitarbeiterinnen des Telefonsex-Anbieters in der Praxis das Telefonat "bei Nichtgefallen" wohl kaum einfach abbrechen könnten.

Selbst wenn man mit der BGH-Rechtsprechung Telefonsex-Verträge als sittenwidrig ansieht, muss das nicht auch zu einem Gegenrecht gegen die Rechte der Telefongesellschaft führen, in deren Gebühren das Entgelt für die Inanspruchnahme der Telefonsexdienste enthalten ist. Das hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 22. November 2001 - III ZR 5/01 - ausgesprochen. In der Pressemitteilung des BGH heißt es dazu:

Der für das Dienstvertragsrecht zuständige III. Zivilsenat hat entschieden, daß gegenüber der Rechnungsstellung eines Mobilfunknetzbetreibers, der mit dem Adressaten der Rechnung einen Vertrag über Mobilfunkdienstleistungen abgeschlossen hat, nicht der Einwand erhoben werden kann, die in der Rechnung aufgeführten 0190-Sondernummern seien zu dem Zweck angewählt worden, (sittenwidrige) Telefonsex-Gespräche zu führen.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten, mit der sie einen Vertrag über Mobilfunkdienstleistungen abgeschlossen hatte, Zahlung von mehr als 20.000 DM. Die in Rechnung gestellten Beträge beruhen im wesentlichen darauf, daß unter Benutzung des Mobilfunktelefonanschlusses der Beklagten 0190-Sondernummer-Verbindungen hergestellt und aufrechterhalten wurden. Die Beklagte hat die Begleichung der Rechnungen mit der Begründung verweigert, ihr Vater habe diese Sondernummern angewählt, um Telefonsex zu betreiben.

Das Berufungsgericht hat unter Hinweis darauf, daß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 9. Juni 1998 - XI ZR 192/97 - NJW 1998, 2895) Telefonsex-Verträge nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig und nichtig sind, die Klage zum größten Teil abgewiesen.

Die Revision der Klägerin hatte in der Hauptsache Erfolg. Dabei hat der III. Zivilsenat offengelassen, ob bezüglich der Beurteilung der Sittenwidrigkeit von Telefonsex-Verträgen an der Rechtsprechung des XI. Zivilsenats festzuhalten ist. Die Frage der rechtlichen Bewertung derartiger Verträge stellt sich jedenfalls dann völlig neu, wenn das vom Bundestag bereits beschlossene Gesetz zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten in Kraft treten sollte.

Der III. Zivilsenat hat die Klageforderung insbesondere deshalb für berechtigt erachtet, weil sowohl der zwischen einem Netzbetreiber und seinem Kunden geschlossene Telefondienstvertrag als auch die vertraglich in erster Linie geschuldete Leistung - Herstellen und Aufrechterhalten einer Telefonverbindung - wertneutral sind. Der Netzbetreiber hat keinen Einfluß darauf, welche Teilnehmer zu welchen Zwecken in telefonischen Kontakt treten. Der Inhalt der geführten Gespräche ist für ihn nicht kontrollierbar und geht ihn nichts an.

Diese Grundsätze haben nach Meinung des III. Zivilsenats auch bei der Anwahl von 0190-Sondernummern zu gelten. Dabei fällt entscheidend ins Gewicht, daß die Verantwortlichkeit für den Inhalt der bei der Anwahl von 0190-Sondernummern neben der bloßen Verbindungsleistung zu erbringenden weiteren Dienstleistung nach § 5 Abs. 1 und 3 des Teledienstegesetzes vom 22. Juli 1997 (BGBl. I S. 1870) im allgemeinen nur bei dem Diensteanbieter selbst, nicht auch bei dem die Verbindung zwischen dem Anrufer und dem Diensteerbringer herstellenden Netzbetreiber liegt. Zwar werden bei der Anwahl von 0190-Sondernummern deutlich höhere Entgelte als bei sonstigen Gesprächen von gleicher Dauer verlangt, weil darin neben den Verbindungspreisen auch die Vergütung der Diensteanbieter enthalten ist. Dies ändert aber nichts daran, daß das Abrechnungsverhältnis zwischen dem Kunden und dem Netzbetreiber auf dem Telefondienstvertrag nebst der jeweils gültigen Preisliste gründet.

Verstöße gegen die Ehe- und Familienordnung

Verstöße gegen das sittliche Wesen der Ehe oder gegen familienrechtliche Werte können Verträge sittenwidrig machen.

Als Beispiel sittenwidriger, weil gegen die Familienordnung verstoßender Verträge werden oft Leihmütterverträge genannt mit der Begründung, dass diese Verträge das Kind in sittenwidriger Weise zum Gegenstand eines Handels machen würden. Die Nichtigkeit derartiger Verträge ergibt sich jedoch schon aus § 1747 Abs. 1 S. 1 BGB, der der Privatautonomie in diesem Bereich keinen Raum lässt. Ein Rückgriff auf § 138 Abs. 1 BGB ist hier nicht notwendig.

Gemäß § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig, weil der Familienordnung widersprechend, sind jedoch Verträge über heterologe Insemination, wenn das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung nicht gewahrt, und die Vermeidung eines Konflikts zwischen biologischer und rechtlicher Elternschaft nicht gewährleistet ist.

Verstöße gegen Standesregeln

Beschränkungen der Handlungsfreiheit durch Standesregeln finden sich bei manchen freien Berufen, insbesondere bei Ärzten und Rechtsanwälten. Derartige Standesregeln sind teilweise gesetzlich geregelt, wie dies etwa bei Beschränkungen der zulässigen Werbung der Fall ist (vgl. den für Anwälte geltenden § 43b BRAO). Ein Verstoß gegen diese Normen führt zur Anwendung des § 134 BGB.

Teilweise sind die Standesregeln zwar anerkannt, aber nicht rechtlich normiert, und damit nur der Sittenordnung zuzurechnen. Ein Verstoß gegen derartige unnormierte Standesregeln kann zur Sittenwidrigkeit i.S.d. § 138 Abs. 1 BGB führen. Die Sittenwidrigkeit lässt sich hier zumeist damit begründen, dass dem Verstoßenden ein ungerechtfertigter Vorsprung vor den sich standesgemäß verhaltenden Konkurrenten zukommt.

Beispiel für ein den deutschen Standesregeln widersprechendes und damit sittenwidriges Geschäft ist die Vereinbarung eines Erfolgshonorars bei Anwälten (anders in den USA). Die Vereinbarung des Erfolgshonorars führt zu einem übermäßigen finanziellen Eigeninteresse des Anwalts am Ausgang des Prozesses und damit zu einer Gefährdung seiner Stellung als besonderes Organ der Rechtspflege (vgl. § 1 BRAO).

Ausnutzung von Machtpositionen und Überforderung des Schuldners, insbesondere die Bürgenentscheidungen des BGH und des BVerfG

Die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts kann sich letztlich auch daraus ergeben, dass ein Geschäftspartner eine wirtschaftliche oder sonstige Machtstellung (insbesondere ein Monopol) ohne sachliche Rechtfertigung dazu ausnutzt, dass er sich übermäßige Vorteile versprechen lässt.

Beispiel: Im Arbeitsverhältnis ist der Arbeitgeber regelmäßig strukturell überlegen, denn der Arbeitnehmer ist üblicherweise auf die Einstellung und den Erhalt seines Arbeitsplatzes angewiesen (Ausnahmen gelten teilweise bei hoch qualifizierten, gesuchten Fachleuten). Nutzt der Arbeitgeber diese Machtstellung einseitig zu seinem Vorteil aus, etwa indem er im Arbeitsvertrag eine Verlustbeteiligung des Arbeitnehmers ohne angemessenen Ausgleich vereinbart, so ist diese Vereinbarung sittenwidrig.

Besonders viel diskutiert wird in den letzten Jahren die Frage, ob § 138 Abs. 1 BGB zur Nichtigkeit von Verpflichtungen führt, die über die voraussichtliche Leistungsfähigkeit des Schuldners hinausgehen. Diskutiert wird diese Frage insbesondere mit Bezug auf Bürgschaften vermögensloser Familienmitglieder.

Die Rechtsprechung des für Bürgschaftsfälle zuständigen 9. Zivilsenats des BGH ist hier lange davon ausgegangen, dass allein die Tatsache, dass eine Verpflichtung vom Schuldner voraussichtlich nicht zu erfüllen ist, nicht zur Sittenwidrigkeit des Vertrages führt. In den Leitsätzen seines insoweit grundlegenden Urteil vom 28. Februar 1989 - IX ZR 130/88 – BGHZ 107, 92 führte der 9. Zivilsenat u.a. aus:

"Die Vertragsfreiheit als Teil der Privatautonomie läßt es zu, auch risikoreiche Geschäfte abzuschließen und sich zu Leistungen zu verpflichten, die nur unter besonders günstigen Bedingungen erbracht werden können."

Der notwendige Schutz der Menschenwürde eines Überschuldeten würde in ausreichender Weise durch den Vollstreckungsschutz der ZPO geleistet.

Dieser auch in der Literatur teilweise heftig kritisierten Rechtsprechung ist zunächst der für Gesamtschulden zuständige 11. Zivilsenat des BGH entgegengetreten. Im Urteil vom 22. Januar 1991 (XI ZR 111/90) zur gesamtschuldnerischen Mitverpflichtung führt der 11. Zivilsenat aus:

"Die finanzielle Überforderung des Darlehensnehmers kann es jedenfalls zusammen mit anderen Geschäftsumständen rechtfertigen, einem Darlehensvertrag aufgrund einer Gesamtwürdigung die rechtliche Wirksamkeit zu versagen."

1993 hatte sich dann das Bundesverfassungsgericht mit dem Fragenkreis auseinander zu setzen (BVerfG, NJW 1994, 36, 38 ff.). Die Entscheidung betraf u.a. folgenden

Sachverhalt: Der Vater der Beschwerdeführerin war zunächst als Immobilienmakler tätig; er errichtete und verkaufte Eigentumswohnungen. Im Jahre 1982 begehrte er von der Stadtsparkasse C. eine Verdoppelung seines Kreditlimits von 50.000 DM auf 100.000 DM. Als die Stadtsparkasse eine Sicherheit verlangte, unterzeichnete die damals 21jährige Beschwerdeführerin am 29. November 1982 eine vorgedruckte Bürgschaftsurkunde mit einem Höchstbetrag von 100.000 DM zuzüglich Nebenleistungen, in der es unter anderem heißt:

1. Die Bürgschaft wird zur Sicherung aller bestehenden und künftigen, auch bedingten oder befristeten Forderungen der Sparkasse gegen den Hauptschuldner ... aus ihrer Geschäftsverbindung ... übernommen. ...

3. Die Bürgschaft ist selbstschuldnerisch unter Verzicht auf die Einrede der Vorausklage übernommen. Der Bürge verzichtet auf die Einreden der Anfechtbarkeit und der Anrechenbarkeit ... sowie auf die Einrede der Verjährung der Hauptschuld ... .Der Bürge kann keine Rechte aus der Art oder dem Zeitpunkt der Verwertung oder der Aufgabe anderweitiger Sicherheiten herleiten. Die Sparkasse ist nicht verpflichtet, sich an andere Sicherheiten zu halten, bevor sie den Bürgen in Anspruch nimmt. ...

Die Krediterhöhung wurde daraufhin bewilligt. Die Beschwerdeführerin erhielt für das Kreditkonto ihres Vaters ein Zeichnungsrecht, verfügte selbst aber über kein Vermögen. Sie hatte keine Berufsausbildung, war überwiegend arbeitslos und verdiente zur Zeit der Bürgschaftserklärung in einer Fischfabrik 1.150 DM monatlich netto.

Im Oktober 1984 gab der Vater der Beschwerdeführerin sein Immobiliengeschäft auf und betätigte sich nunmehr als Reeder. Die Stadtsparkasse finanzierte den Kauf eines Schiffes mit 1,3 Mio. DM. Im Dezember 1986 kündigte sie die offen stehenden Kredite (etwa 2,4 Mio. DM) und teilte der Beschwerdeführerin mit, dass sie aus der Bürgschaft in Anspruch genommen werde.

Auch diesen Fall hatte der 9. Zivilsenat im Sinne seiner ursprünglichen Rechtsprechung entschieden. Er verneinte die Sittenwidrigkeit der Bürgschaft.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügte die Tochter dann vor dem Bundesverfassungsgericht die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Ergebnis weitgehend der Haltung des 11. Zivilsenats angeschlossen. In den Gründen erkennt es zwar zunächst die Privatautonomie des Einzelnen und damit auch die Möglichkeit risikoreicher Geschäfte als durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet an. Es sieht die Privatautonomie dann jedoch als notwendigerweise begrenzt und der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürftig an. Diese Ausgestaltung der privatautonomen Betätigung durch das Zivilrecht müsse die grundrechtlichen Vorgaben beachten. Damit müsse das Zivilrecht zwar einerseits die privatautonome Betätigung des Einzelnen ermöglichen. Es dürfe jedoch andererseits nicht ausschließlich zu einem "Recht des Stärkeren" führen. Insbesondere müsse verhindert werden, dass zivilrechtliche Verträge zur Fremdbestimmung strukturell unterlegener Parteien genutzt würden. Dies sei durch entsprechende Anwendung der zivilrechtlichen Generalklauseln und hier insbesondere eben auch des § 138 BGB möglich. Im Ergebnis kam es im vorliegenden Fall zum Urteil, dass der BGH diese Grundsätze nicht beachtet hätte.

Sittenwidrig sind nach dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mithin Verträge, die

bulletfür eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen sind, und
bulletdie Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind.

Aufgrund dieses, in der Literatur größtenteils begrüßten Urteils hat auch der 9. Senat des BGH in mehreren Folgeentscheidungen die Sittenwidrigkeit von Bürgschaften vermögensloser Familienangehöriger angenommen. Dabei kann man die folgenden drei Punkte als die von der Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit von Bürgschaften, die den Bürgen überfordern, ausmachen:

  1. Die Bürgschaft ist in einer Zwangslage abgegeben worden (etwa aufgrund familiärer Verbundenheit);
  2. sie überfordert den Bürgen;
  3. der Bürge zieht aus dem verbürgten Geschäft selbst keinen unmittelbaren Vorteil.

Die bisherige weitere Entwicklung der Rechtsprechung ist durch die Tendenz gekennzeichnet, Bürgschaften von (gerade mal erwachsenen) Kindern für die Geschäfte ihrer Eltern einer "Vermutung der Sittenwidrigkeit" zu unterwerfen, während Bürgschaften von Ehegatten wegen der nicht von der Hand zu weisenden Gefahr der Vermögensverschiebung zwar weniger misstrauisch betrachtet, aber mit zusätzlichen Kautelen versehen werden. Diese Kautelen führen letztlich dazu, dass die Inanspruchnahme der Bürgschaft durch den Gläubiger an die Bedingung geknüpft wird, dass ein Vermögenserwerb des Bürgen stattgefunden hat (Entscheidung vom 23. Januar 1997, IX ZR 69/96, NJW 1997, 1003).

Die Rechtsprechung zur Bürgschaft finanziell überforderter Ehegatten findet entsprechende Anwendung, wenn Hauptschuldner und Bürge durch eine eheähnliche Lebensgemeinschaft verbunden sind (BGH, Urteil vom 23. Januar 1997, IX ZR 55/96, WM 1997, 465).

Diese Rechtsprechung ist sowohl auf Zustimmung wie auf Kritik in der Literatur gestoßen. Die Kritiker verweisen letztlich wie zuvor der 9. Zivilsenat darauf, dass die Bürgschaft ein an sich risikoreiches Geschäft sei und dass der Bürge privatautonom selbst entscheiden müsse, ob er das mit der Bürgschaft verbundene Risiko tragen könne. Die Sittenwidrigkeit solcher den Bürgen überfordernder Bürgschaften sei erst dann anzunehmen, wenn zusätzliche Besonderheiten (etwa bei der Veranlassung der Bürgschaftserklärung) vorliegen. Dies sei etwa dann der Fall, wenn, wie es im oben geschilderten Fall des Bundesverfassungsgerichts geschehen war, der Bürgin erklärt wird: "Unterschreiben Sie das mal, ich brauche das (nur) für meine Akten" und zudem jede Begrenzung der Hauptschuld fehlte.

Insgesamt wird die weitere Entwicklung dieses viel diskutierten Problembereichs zu beobachten sein. Denn auch in der Rechtsprechung ist die Diskussion nicht zur Ruhe gekommen. Der IX. und der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs haben zu keiner einheitlichen Linie der Beurteilung der Ehegattenbürgschaften gefunden (vgl. Tonner, Sittenwidrigkeit von Ehegattenbürgschaften, JuS 2000, 17). Am 29.06.1999 hat der XI. Senat den lange fälligen Schritt getan und mit einem Vorlagebeschluss den Großen Senat in Zivilsachen angerufen (XI ZR 10/98, NJW 1999, 2584). Dazu hat sich der IX. Senat in ungewöhnlicher Weise zu Wort gemeldet und die Vorlage des XI. Senats als nicht rechtens deklariert (NJW 2000, 1185). Der Große Senat in Zivilsachen wird auch ohne diese Auseinandersetzung keine Gelegenheit bekommen, in dieser Frage eine klärende Entscheidung zu fällen. Der Revisionskläger hat seine Revision in der Sache, in der die Vorlage erfolgt war, zurückgenommen hatte (vgl. ZIP aktuell, Heft 11/2000, A 24 Nr. 53) und damit dem Bundesgerichtshof die Entscheidungsmöglichkeit genommen. Der XI. Zivilsenat hielt sich in der Folgezeit zu Änderungen der Rechtsprechung ohne Anrufung des Großen Senats für Zivilsachen gemäß § 132 GVG in der Lage, weil er nach dem Geschäftsverteilungsplan des Bundesgerichtshofs seit dem 1. Januar 2001 an Stelle des IX. Zivilsenats für Bürgschaftssachen zuständig war (vgl. BGHZ 151, 34  = NJW 2002, 2228 unter II.2.b).

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© Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann. 
Bei Fragen und Unklarheiten wenden sich meine Studenten bitte an:
Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann.
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