Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
vor § 373 Randnummer 30

Tatsächlich entspricht eine solche Annahme einer weit verbreiteten Modellvorstellung (vgl. Vester S. 43 ff.), die man als Trichtermodell der Informationsaufnahme und -speicherung bezeichnen kann. Danach liegt der Langzeitspeicher am Ende eines Trichters, in dem der Informationsstrom aus der Umwelt auf das eingeengt wird, was von den sensorischen Reizen die Schwelle der bewußten Wahrnehmung passiert und über das mit beschränkter Kapazität ausgestattete Kurzzeitgedächtnis in den Mittelzeitspeicher und schließlich in den Langzeitspeicher gelangt (Diskussion und Kritik bei Laudien S. 51 ff.; Baddeley S. 190 f.; Ott/Matthies Psychologie VI, S. 998 ff.). Ein anderes Bild für den nämlichen Sachverhalt gibt das Filtermodell her (vgl. unten RN 70 f.) Bekannte Schlagworte sind in diesem Zusammenhang die Selektivität der bewußten Wahrnehmung und die beschränkte Simultankapazität des als Arbeitsspeicher gesehenen Kurzzeitspeichers (vgl. etwa Laudien S. 46 f.). So zutreffend die Rede von der Selektivität der bewußten Wahrnehmung und der beschränkten Simultankapazität des Arbeitsspeichers auch sein mag, das Trichtermodell der Informationsaufnahme und -speicherung beruht, physiologisch betrachtet, so lange auf reiner Spekulation, wie wir nicht wissen, welche Prozesse der Engrammbildung im Langzeitspeicher zugrunde liegen. Physiologisch ist es jedenfalls nicht ausgeschlossen, daß jeder Reiz, der das Gehirn erreicht, auch auf Dauer gespeichert wird, mag er nun bewußte Aufmerksamkeit erregt haben und in den Kurzzeitspeicher gelangt sein oder nicht (vgl. Laudien S. 145). Die dagegen mit der beschränkten Kapazität des Langzeitspeichers argumentierenden Stimmen (vgl. Sinz in Klix/Sydow S. 207 ff.; Kornhuber Psychologie VI, S. 795 f.) sind ebenso spekulativ wie das Trichtermodell insgesamt. Ihre auf bits als kleinsten Informationseinheiten und die Zahl der Nervenzellen als Engrammorten abstellenden Rechnungen sind in doppelter Hinsicht problematisch, weil weder ein Umrechnen sensorischer Informationen in bits gesichert noch bekannt ist, ob die Nervenzellen die Orte für Engramme sind. Spricht man den Synapsen, über die die Nervenzellen in vielfältiger Weise untereinander Kontakt aufnehmen (vgl. zum Aufbau und zur Funktion von Synapsen Stevens Gehirn und Nervensystem, S. 3 ff.; Iversen Gehirn und Nervensystem, S. 21 ff.; Felix Psychologie VI, S. 653 ff.), eine entscheidende Rolle bei der Engrammbildung und -lagerung zu (vgl. Flohr/Bienhold Jahrbuch der Wittheit zu Bremen XXIV (1980), S. 97 ff.), so gibt es keine relevanten Kapazitätsgrenzen des Langzeitspeichers. Gedächtnisprobleme und -fehlleistungen haben ihre Wurzel dann nicht in beschränkten Lagerungsmöglichkeiten, sondern in der Organisation sowohl der Lagerung wie des Zugangs zu den Lagerbeständen. Auch das Vergessensphänomen muß nicht mit dem unwiederbringlichen Ausscheiden aus den Lagerbeständen (Spurenzerfall), sondern kann auch mit reparablen Auffind- und Abrufschwierigkeiten verbunden sein (vgl. Arbinger S. 141 ff.; Baddeley S. 69 ff.; Laudien S. 58 ff.; Berelson/Steiner S. 118 f.).


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