2. Verhaltensanalyse und Aussageanalyse - methodische Vorbemerkungen
Bei der Verhaltensanalyse geht es um Beobachtungen, die man während der Vernehmung am Zeugen machen kann. Bei der Aussageanalyse werden Feststellungen zu Inhalt und Struktur des aus der Vernehmung entstandenen Produkts getroffen. In beiden Bereichen sind nur solche Feststellungen und Beobachtungen sinnvoll, welche tatsächlich einen Hinweis auf die Glaubhaftigkeit oder auf die fehlende Glaubhaftigkeit einer Bekundung enthalten. Keinerlei Hinweise enthalten Feststellungen und Beobachtungen zu solchen Merkmalen, die man bei glaubhaften und nicht glaubhaften Bekundungen im gleichen Maße antrifft. Sobald jedoch die Anteile verschieden groß ausfallen, dürfen wir dem betreffenden Merkmal einen Hinweis für die Frage der Glaubhaftigkeit entnehmen. Wie stark der Hinweis ist, hängt von der Maßzahl ab, die sich ergibt, wenn wir die Anteile des Merkmals in den glaubhaften Aussagen und in den unglaubhaften Aussagen zueinander ins Verhältnis setzen. Der Leser unserer Bemerkungen zu § 286 erkennt sofort, daß wir es hier mit einer Likelihoodbetrachtung zu tun haben (§ 286 RN 10 ff.), zu deren nicht nur formal, sondern auch inhaltlich korrekter Verwendung uns die Aussagepsychologie hinreichend gesicherte Erfahrungssätze über die Anteile der betrachteten Merkmale in glaubhaften und in nicht glaubhaften Aussagen liefern müßte. Darum ist die Aussagepsychologie auch bemüht. Bei der Verwendung der Kriterien im Gerichtssaal tritt indessen ein weiteres Problem auf. Die Kriterien müssen auf ein konkretes Individuum bezogen werden. Als Richter aber wissen wir häufig nicht, welche der uns als unnatürlich oder auffallend erscheinenden Verhaltensweisen des Zeugen auf die ungewohnte, befremdliche, ja bedrückende Situation im Gerichtssaal und welche auf eventuelle Verfälschungsabsichten zurückzuführen sind. Wir kennen auch nicht das natürliche Aussageverhalten des Zeugen, den wir in diesem Termin zum ersten Mal sehen und beobachten. Ebensowenig Ahnung haben wir von den Phantasieleistungen, zu denen dieser Zeuge fähig ist, die wir aber kennen müßten, um uns darüber schlüssig zu werden, ob Inhalt und Struktur der vorliegenden Aussage auf ein reales Erlebnis des Zeugen hinweisen. Die einzige Chance, die wir hier haben, ist, die Vernehmung so anzulegen, daß sie möglichst auch Anhaltspunkte für die notwendige Vergleichsbasis liefert. Der Richter im Gerichtssaal wird aber niemals über die Möglichkeiten verfügen, die der mit Glaubwürdigkeitsbeurteilungen befaßte Psychologe zur Bewältigung seiner Aufgabe für erforderlich hält: ein Explorationsgespräch in einer dem Zeugen vertrauten Umgebung, bei dem außer zur Sache selbst Schilderungen eines unzweifelhaft gehabten Erlebnisses sowie einer reinen Phantasiegeschichte produziert werden (durchschnittliche Dauer der Exploration: 3 bis 4 Stunden, vgl. Arntzen S. 129 ff.).
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