c) Likelihoodbetrachtungen
Der bislang allein ins Auge gefaßte statistische Syllogismus ist nicht die einzige Möglichkeit mit Indizien und statistischen Erfahrungssätzen Überlegungen zu einem fraglichen Sachverhaltsmerkmal anzustellen. Eine andere liegt in der sog. Likelihoodbetrachtung (vgl. zum Denken in Likelihoods Stegmüller Probleme, Bd. IV, 2. Halbband, S. 5 f., 84 ff.). Sie ist den juristischen Theoretikern weitgehend verbogen geblieben, obwohl sie in der Praxis etwa bei der Auswertung biostatistischen Materials zur Feststellung einer behaupteten Vaterschaft - die Richtlinien des Bundesgesundheitsamts für die Erstattung von Blutgruppengutachten sprechen ausdrücklich vom "Likelihood-Quotienten" - aber auch bei allgemeinen Beratungen über die Grundlagen der Überzeugungsbildung eine wichtige Rolle spielen, ohne als Likelihoodbetrachtung erkannt und benannt zu werden (vgl. Döhring S. 364 f.). Praktiker waren es denn auch, die als erste in der deutschen Diskussion vorschlugen, auf der Grundlage des Bayestheorems eine allgemeine Beweislehre zu entwickeln (vgl. Bender/Nack DRiZ 198O, 121 ff.; Bender/Nack RN 4O1 ff., insb. 436 ff.). Das Bayestheorem aber ist nichts anderes als der mathematische Ausdruck für die Likelihoodbetrachtung. Diese ist dadurch charakterisiert, daß sie die Wahrscheinlichkeitswelt von den Füßen auf den Kopf zu stellen scheint. Während man normalerweise danach fragt, wie wahrscheinlich ein unbekanntes Ereignis aufgrund bekannter Indizien ist und eine Antwort mithilfe des statistischen Syllogismus sucht, fragt man bei der Likelihoodbetrachtung nach der Wahrscheinlichkeit der bekannten Ereignisse unter der Annahme des unbekannten Ereignisses. Der dabei erhaltene Wert ist die Likelihood des unbekannten Ereignisses. Seiner Ermittlung liegt bei dem unbekannten Ereignis G und dem bekannten Ereignis I ein statistischer Erfahrungssatz der Art (2) (oben RN 7) zugrunde mit dem unbekannten Ereignis als Wennkomponente und dem bekannten Ereignis als Dannkomponente. Die Likelihood des unbekannten Ereignisses ist keine Wahrscheinlichkeit im mathematischen Sinne; d.h. sie genügt nicht den Axiomen der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie. Ihr absoluter Wert, sei er nahe bei 1 oder nahe bei 0, ist für die Wahrscheinlichkeit des unbekannten Ereignisses unerheblich. Likelihoodbetrachtungen sind allein als Vergleich mehrerer Likelihoods von praktischer und theoretischer Relevanz. Es kommt auf das Likelihood-Verhältnis miteinander rivalisierender Hypothesen über das unbekannte Ereignis an. Bei einem unbekannten Sachverhaltsmerkmal G fragt man also nach der Wahrscheinlichkeit der feststehenden Indizien unter der Annahme G (= Likelihood für G) einerseits und der Annahme Nicht-G (= Likelihood für Nicht-G) andererseits und entscheidet sich u. U. für die Hypothese, die mit den schon feststehenden Ergebnissen der Sachverhaltsrekonstruktion besser vereinbar ist, weil die feststehenden Ergebnisse unter dieser Hypothese wahrscheinlicher als unter der konkurrierenden Hypothese sind. Auch hier stellt sich natürlich die Frage, wie groß das Übergewicht für eine der rivalisierenden Annahmen sein muß, um der endgültigen Entscheidung zugrunde gelegt zu werden. Das ist eine Frage des Beweismaßes (dazu unten RN 14 ff.).
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