E. Zuziehungsermessen
Wo nach Satzstruktur und -gehalt Sachverständigenbeweis erhoben werden darf, besteht dennoch kein Zwang, für jeden Fall des Parteienstreits über die Richtigkeit eines entsprechenden Satzes ein Sachverständigengutachten einzuholen (Ausnahmen: §§ 3 Abs. 3 Satz 3, 12 Abs. 2 BRAGO, §§ 654, 655, 671, 676 Abs. 3, 679 Abs. 4 ZPO). Der Richter verfügt vielleicht schon über das Wissen, welches den Streit erledigt, oder er bemüht sich, durch Selbststudium die bestehenden Informationslücken zu schließen (BGH JZ 1968, 670; Döhring Fachliche Kenntnisse des Richters und ihre Verwertung im Prozeß, JZ 1968, 641 ff.; Pieper ZZP 84 (1971), 1, 11 ff.). Wenn es ihm nur gelingt, die höhere Instanz von der Solidität seines Wissens zu überzeugen, darf er ungerügt von der Hinzuziehung eines Sachverständigen absehen. Für bestimmte Teilbereiche dürfte das nicht allzu problematisch sein. Wir haben ja den Bereich, in dem Streitfragen durch richterlichen Augenschein, Zeugen- oder Parteibeweis geklärt werden können und müssen sehr eng gezogen, so daß viele Fragen theoretisch einer Klärung durch Sachverständige offen sind, deren Antwort zu den Kernwissensbeständen eines jeden Richters zählt. Für die Auslegung von Willenserklärungen bedarf es im Normalfall keines Sprachsachverständigen, wenn die Parteien über die Bedeutung eines verwendeten Ausdrucks streiten. Das mag sich ändern, wenn es um eine fach- oder geschäftsspezifische Verwendungsweise geht. Einen in einem entscheidungsrelevanten Punkt widersprüchlichen Sachvortrag wird kein Richter akzeptieren und seine Berechtigung dazu ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens auch dann darlegen, wenn die Partei die Geltung des Satzes vom Widerspruch unter Hinweis auf die Hegelsche Dialektik bestreiten sollte. Für einfache Schlußregeln und Lehrsätze der Schulmathematik dürfte nichts anderes gelten. Anders sieht es aber womöglich bei der Frage aus, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein nicht unerheblicher Teil (mindestens 10 %) der angesprochenen Verkehrskreise durch eine Werbeaussage irregeführt wird, wenn in einer Stichprobe von 10 Personen (die zur Entscheidung berufenen Richter mit ihren Ehepartnern und Kindern als Teil der angesprochenen Verkehrskreise) 4 irregeführt werden und 6 nicht. Bei Repräsentativität der Stichprobe ist das eine rein mathematische Frage (vgl. dazu auch unten RN 23). Einen nicht trivialen mathematischen Lehrsatz hat etwa das OLG Bremen in seiner Entscheidung zur Kombination der Auswertung anthropologischer und serologischer Befunde zur Vaterschaftsfeststellung verwendet, ohne sich durch einen Sachverständigen über diesen Lehrsatz belehren zu lassen (NJW 1984, 672). Auch jenseits mathematischer und analytischer Sätze dürften sich viele Sätze finden, für deren Zutreffen der Richter keinen Sachverständigen befragen muß. Jedermann weiß, daß es nur dort brennen kann, wo es Sauerstoff gibt. Eine solche Annahme darf deshalb auch der Richter ohne weiteres seiner Entscheidung zugrunde legen. Das Gleiche gilt für die physikalischen Zusammenhänge zwischen Geschwindigkeit, Bremsverzögerung, Bremszeit und Bremsweg, mit deren Hilfe in einfach gelagerten Fällen der Verkehrsrichter auch ohne einen Verkehrssachverständigen Vermeidbarkeitsbetrachtungen anstellen kann (vgl. Burg Verkehrsunfallanalyse, DEKRA-Fachschriftenreihe 20/83, S. 49 ff.). Von der Rechtsprechung (!) anerkannte Erfahrungssätze (!) für die Anwendung des Anscheinsbeweises (Zusammenstellung bei Greger VersR 1980, 1091 ff.) legt heute jeder Richter seinen Entscheidungen ohne Befragung eines Sachverständigen zugrunde, wenn ihm nicht nachvollziehbar dargelegt wird, warum der Erfahrungssatz im konkreten Fall nicht gelten soll oder aber überhaupt der Erfahrungsbasis ermangelt. Im Streitfalle müssen Erfahrungssätze und technische Regeln allerdings vom Tatrichter ermittelt werden. ,,Die Berufung auf die Wiedergabe technischer Sachverhalte in einem Revisionsurteil ersetzt deshalb nicht die Erhebung von Sachverständigenbeweis" (BGH NJW 1982, 1049, 1050). Problematisch werden im sprachlichen, mathematisch-logischen wie im empirischen Bereich allein die Fälle, in denen der Richter davon absehen will, einen Sachverständigen zu entscheidungsrelevanten Sätzen zu befragen, die nicht zum Allgemeinwissen zählen und auch durch die Rechtsprechung (noch) nicht anerkannt sind. Hier muß der Richter dartun - und sei es auch nur durch den Hinweis auf einschlägige Veröffentlichungen -, warum er sich für befugt halten durfte, den fraglichen Satz auch ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen seiner Entscheidung zugrundezulegen (vgl. zu den Anforderungen der Praxis Pieper in: Pieper/Breunung/Stahlmann S. 20 f. mit weiteren Nachweisen; speziell zur Feststellung der Verkehrsauffassung im Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht Tilmann GRUR 1984, 716 ff.).
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