Beweisrecht
Alternativkommentar ZPO
vor § 284 Randnummer 3

II. Sachverhaltsrekonstruktionen und Prozeßmaximen

Einer verbindlichen systematischen Erfassung der Regeln, welche die zivilrichterliche Sachverhaltsrekonstruktion leiten sollen, stellt sich nicht nur die bislang ungenügende Berücksichtigung der modernen Wissenschaftstheorie in den Weg. Erschwerend wirkt auch die Zersplitterung der gesetzlichen Vorschriften einerseits und - bedeutender - der Grundlagenstreit über Verfahrenszweck und Verfahrensmaximen (vgl. dazu Einl. RN 43 ff. und vor § 138 RN 2 ff.) andererseits. Gesetzliche Regeln finden sich vor allem in drei Blöcken: den §§ 284 bis 294, 355 bis 494 und 141 bis 144. Während man die ersten beiden Komplexe noch annähernd dadurch kennzeichnen kann, daß §§ 284 bis 294 allgemeine Vorschriften zur Beweisbedürftigkeit und Beweiswürdigung enthalten, die §§ 355 ff. dagegen vornehmlich die Einführung der einzelnen Beweismittel in das Verfahren durch Beweisantritt und Beweisaufnahme betreffen, ist das Verhältnis der §§ 355 ff. zu §§ 141 bis 144 alles andere als klar. Was nach §§ 355 ff. den Parteien vorbehalten und aufgegeben scheint, darf nach §§ 141 bis 144 auch das Gericht. Allein den Zeugenbeweis kann das Gericht nicht ohne einen Beweisantritt einer Partei erheben. Es liegt auf der Hand, daß die Erwägungen darüber, welches Gewicht man der einen oder der anderen Möglichkeit, Beweiserhebungen zu veranlassen, bei der Erstellung von Regeln zur Sachverhaltsrekonstruktion beimißt, in den Streit um die den Zivilprozeß beherrschenden Maximen hineinführen. Im klassischen Gegensatzpaar Verhandlungsmaxime versus Untersuchungsmaxime haben die §§ 141 bis 144 ihren eindeutigen Ort bei der Untersuchungsmaxime. In Verfahren mit Verhandlungsmaxime sind sie dagegen ein Fremdkörper. Anders bei der in diesem Kommentar befürworteten Kooperationsmaxime (Einl. RN 36 ff.; 53 ff.; vgl. auch Hahn Kooperationsmaxime im Zivilprozeß? 1983). Sie kennt das schroffe Entweder/Oder des klassischen Gegensatzpaares nicht und nutzt das in §§ 141 bis 144 (und anderen Vorschriften) enthaltene Potential zu flexiblen Reaktionen auf unterschiedliche Prozeßlagen mit dem Ziel der Konfliktbewältigung auf der Grundlage einer möglichst wirklichkeitsgerechten Sachverhaltsrekonstruktion. Vor diesem Hintergrund des Maximenwandels ergeben sich dann auch Bedeutungsverschiebungen bei einigen rechtsdogmatischen Grundbegriffen des Beweisrechts.


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