*Vortrag zur Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie am 1. Oktober 1992 in Hamburg
Erstveröffentlichung in: Koch/Köhler/Seelmann (Hrsg.), Theorien der Gerechtigkeit, ARSP Beiheft 56, 1994, S. 24 bis 40
Wer nach normativen Begründungsmöglichkeiten - besser nach den Möglichkeiten der Begründung von Normen - jenseits der Gesetzesbindung fragt, muß sich Rechenschaft darüber ablegen, ob es dieses Jenseits überhaupt gibt. Die Antwort kann in zwei Extremformen gegeben werden. Einmal mag man Begründungsmöglichkeiten diesseits der Gesetzesbindung leugnen und damit dem Thema ubiquitäre Bedeutung in dem Sinne beimessen, daß eine jede juristische Entscheidung in Wirklichkeit eine in die Zuständigkeit der Philosophen fallende ethische Entscheidung sei. Hierzu mag man etwa als Fundamentalhermeneutiker oder auch als Fundamentalskeptiker neigen. Zum anderen mag man Begründungsmöglichkeiten diesseits der Gesetzesbindung als so umfassend ausgearbeitet ansehen, daß es praktisch keine Fälle mehr gibt, für die die Begründungsmöglichkeiten jenseits der Gesetzesbindung noch eine Rolle spielten. Die Neigung dazu mag man als praktisch arbeitender Rechtsdogmatiker verspüren. Der eine oder andere Rechtsphilosoph wird sie vielleicht auch den Positivisten zuschreiben, wie immer die Klasse dieser Menschen auch bestimmt sein mag.
Keine der extremen Auffassungen verdient unsere Zustimmung. Es gibt die ungebundenen wie die gebundenen Entscheidungen, zu welch letzteren der Rechtsanwender nach einer vorgängigen Entscheidung für gesetzesgebundenes Entscheiden - ähnlich der vorgängigen Entscheidung eines Wissenschaftlers und/oder Philosophen für Rationalität - unter ausschließlicher Verwendung empirischer Verfahren, d.h. ohne eine Eigenwertung ins Spiel zu bringen, gelangt.
Der Kreis dieser Entscheidungen und damit die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits gesetzesgebundenen Entscheidens wird dadurch bestimmt, daß man die Regeln für das gesetzesgebundene Entscheiden festlegt. Dazu habe ich anderenorts einen Vorschlag unter Einbeziehung der Rangfolgeerörterungen Bydlinskis unterbreitet [1], den ich hier aus Raum- und Zeitgründen nicht wiederholen kann. Ich beschränke mich darauf, die Summe aus den damaligen Entwicklungen zu ziehen.
Die Entscheidung muß die logische Folge aus einer Prämissenmenge sein, in der neben den Feststellungen zum Sachverhalt ausschließlich Prämissen der folgenden Art vorkommen:
Ein Jurist, der mit der Bindung an das vom Gesetzgeber Gesagte und Gewollte (Zwecke) bei der Rechtsanwendungstätigkeit ernst macht, kann einen weiten Bereich seiner Begründungsaufgaben mit zwar bisweilen außerordentlich komplexen, aber doch solchen Verfahren erledigen, die ihn der Eigenwertung entheben. Er stößt erst dann an die Grenzen solcher Tätigkeit, wenn er für seine Einzelfallentscheidung Prinzipien- und Zielkonflikte zwischen in dem angesprochenen Bereich als geltend festgestellten Prinzipien im Wege sog. Güterabwägung zu bewältigen hat. Dann muß er eine begründete Wahl zwischen Entscheidungsalternativen jenseits der Gesetzesbindung treffen. Ob man diese Wahl als eine moralisch-ethische - weil ohne Bindung an gesetzgeberische Vorgaben - oder als eine rechtliche - weil immer noch vom Rechtsanwender im Rahmen seiner durch Rechtsregeln beschriebenen Rolle zu treffen - bezeichnen will, ist eine Frage der Definition, die nichts an dem zu lösenden Sachproblem ändert, da für die Lösung die nämlichen Überlegungen - unter allerdings verschiedener Flagge - angestellt werden müssen.
Warum sollte sich der Rechtsanwender um die diffizilen Begründungsmöglichkeiten zur Realisierung der Gesetzesbindung bemühen? Die Antwort liegt in der Ethik des gebundenen Entscheidens, die es auch dann zur Geltung zu bringen gälte, wenn die Bindung an Recht und Gesetz nicht in der Verfassung festgeschrieben wäre. Die Ethik des gebundenen Entscheidens liegt zum einen in der Erwartungssicherheit und Verläßlichkeit der Entscheidung, die ein allein an material-ethische Grundsätze gebundenes Entscheiden nicht in derselben Weise gewährleisten könnte, und zum anderen in der Zurückführung der Auszeichnung einer Handlung als geboten, verboten oder erlaubt auf Wertentscheidungen, die eine größere Legitimität in Anspruch nehmen können als die Eigenwertung des zufällig zur Entscheidung des konkreten Falles berufenen Richters.
Soweit nach der Ausschöpfung aller Möglichkeiten des gebundenen Entscheidens Entscheidungsalternativen offen bleiben, ist die Frage nach der begründeten Wahl zwischen Entscheidungsalternativen jenseits der Gesetzesbindung aufgeworfen. Es geht um die Entscheidung über eine in Geltung zu setzende Norm. Wie läßt sich eine solche Entscheidung begründen? Mit dieser Frage stoßen wir - nach einer knappen Klärung des Begründungsbegriffs - schnell auf ein Begründungstrilemma.
In einem ersten intuitiven Zugriff sprechen wir von einer Begründung, wenn das, was mit der Intention einer Begründung angeführt wird, uns in der Annahme des Zutreffens des zu Begründenden bestärkt. Die Begründung ist in ihrer einfachsten Struktur eine zweistellige Relation mit dem zu Begründenden an der einen und dem, was zur Begründung angeführt wird, an der anderen Stelle.
Der Gegenstand der Begründung, die eine Stelle der zweistelligen Relation, ist immer etwas, was in einem Satz zum Ausdruck gebracht werden kann.
Das Mittel der Begründung, die andere Stelle der zweistelligen Relation, muß nicht notwendig von dieser Qualität sein. Theoretisch stehen zwei Möglichkeiten zu Gebote: der unmittelbare Zugang zu dem in dem zu begründenden Satz Gesagten und die - im untechnischen Sinne - Erschließung des zu begründenden Satzes aus anderen Sätzen.
Der unmittelbare Zugang durch unmittelbare Anschauung wirft ein erkenntnistheoretisches Problem auf. Er reicht nur so weit, wie dem Menschen Erkenntnismöglichkeiten über seine Sinneswahrnehmungen gegeben sind. Der zu begründende Satz muß einer wahrzunehmenden Entität eine wahrzunehmende Eigenschaft zuschreiben. Wie weit das und ob das überhaupt möglich ist, ist nicht nur für die Zuschreibung von Wertprädikaten und deontischen Operatoren umstritten.
Wo die Erkenntnismöglichkeiten im Sinne der unmittelbaren Anschauung nicht gegeben sind, dort können nur Sätze zur Begründung angeführt werden. Die Begründungsrelation ist dann eine Relation zwischen Sätzen. Ob jemand mit der Anführung von Sätzen eine Begründung intendiert, können wir dem sprachlichen und situativen Kontext einer Äußerung entnehmen. Wörter wie "weil", "da", "denn", "infolge", "ergo", "deshalb", "folglich" und viele andere mehr deuten auf eine solche Intention hin. Die Intention als solche stiftet aber noch keine Begründung. Wir müssen uns vielmehr fragen, was den Wert einer Begründung ausmacht. Wodurch wird mit anderen Worten die intendierte Begründung zu einer wirklichen Begründung?
Die Antwort zerfällt in zwei Teile. In dem einen Teil geht es um die Begründungsstärke, die unabhängig davon beurteilt wird, ob die zur Begründung angeführten Sätze ihrerseits wahr (richtig) sind. In dem anderen geht es um die Wahrheit (Richtigkeit) der zur Begründung angeführten Sätze. Um eine Begründung insgesamt beurteilen zu können, muß man natürlich beide Teile wieder zusammenfügen. Für die Problemanalyse erweist sich aber die Trennung als vorteilhaft. Ich konzentriere mich im folgenden auf den ersten Teil und frage nach der Stärke einer Begründungsrelation bei unterstellter Wahrheit (Richtigkeit) der zur Begründung angeführten Sätze.
Für Begründungs- und Argumentationstheoretiker galt es lange Zeit als ausgemachte Sache, daß die stärkste denkbare Begründungsrelation die der logischen Folgerungsbeziehung zwischen dem zu begründenden Satz und den zu seiner Begründung angeführten Sätzen sei. Man konnte sich dabei auf die vielfältigen Rekonstruktionsbemühungen der wissenschaftlichen Erklärung stützen, die alle dem Paradigma der logischen Folgerungsbeziehung zwischen Explanans und Explanandum huldigten. Und doch sprechen Stimmen im wissenschaftstheoretischen wie argumentationstheoretischen Schrifttum der logischen Folgerungsbeziehung zwischen Sätzen jede Begründungsqualität, jeglichen Argumentationswert ab [2]. Das überrascht. Prüft man die (intendierte) Begründung für diese These, so kann man lesen, daß etwas, was vollständig in den zur Begründung angeführten Sätzen enthalten sei, schlecht durch diese Sätze begründet werden könne, weil das ja hieße, daß dieses etwas durch sich selbst begründet werde. Wer a mit a begründe, begründe a in Wirklichkeit nicht.
Mir scheint hier ein groteskes Mißverständnis vorzuliegen. Erstens findet sich in keiner mir bekannten Rekonstruktion der wissenschaftlichen Erklärung und Begründung eines Ereignisses der zu erklärende und begründende Satz als solcher in den zur Erklärung und Begründung angeführten Sätzen. Es wird also nirgendwo a mit a begründet. Und zweitens kann es gar keine Begründung geben, ohne daß in den zur Begründung angeführten Sätzen etwas von dem zu begründenden Satz enthalten wäre.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Entwicklungen in der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, die man einen Paradigmawechsel in der Rekonstruktion der wissenschaftlichen Erklärung und Begründung nennen kann. Wolfgang Stegmüller kennzeichnet diese Entwicklungen insgesamt als pragmatische Wende mit der Aufgabe des dritten Dogmas des Empirismus, daß es gelingen müsse, den Erklärungs- und Begründungsbegriff ausschließlich logisch-semantisch zu explizieren [3].
Am Ende der Wende steht die Aufgabe des deduktiv-nomologischen Falls als paradigmatisches Modell für Erklärungen und Begründungen und die Ersetzung des deduktiv-nomologischen Falls durch den statistischen Fall, von dem dann der deduktiv-nomologische Fall nur ein Grenzfall mit einem probabilistischen Gesetz p(G,F) = 1 ist.
Ein weiteres Merkmal der Wende ist die ausdrückliche Einbeziehung pragmatischer Dimensionen in die Explikation des Erklärungs- und Begründungsbegriffs. Man gibt nicht allein logisch-semantische Kriterien für Erklärungen und Begründungen an, sondern bezieht Fragesteller und Fragesituation in die Explikation mit ein. Das erlaubt den Verzicht auf Objektivierbarkeit von Wissensbeständen - selbstverständlich nur für die Explikationsaufgabe - und gibt der Möglichkeit Raum, je nach den Umständen ein und denselben Begründungsversuch einmal als gelungen und ein anderes Mal als nicht gelungen auszuzeichnen.
Aber: Hat das alles irgendwelche Auswirkungen auf die hier aufgeworfene Frage nach der Stärke einer Begründungsrelation und die traditionelle These vom höchsten Stärkegrad der logischen Folgerungsbeziehung? Die Frage verdient ein klares Nein zur Antwort. Auch im jetzt paradigmatischen Fall der statistischen Systematisierung lebt die Stärke der Begründung allein von dem, was von dem zu Begründenden in den zur Begründung angeführten Sätzen enthalten ist. Soll E begründet werden, so steckt die Stärke der Begründung aus F und p(E,F)=r in r, wobei, wenn r=1 ist, der Grenzfall der logischen Deduktion erreicht ist. Das gilt für Einzelfallbegründungen wie für die Begründung von Gesetzmäßigkeiten: Ohne Stiftung eines durch Enthaltensein gekennzeichneten Zusammenhangs gibt es keine Begründung.
Zusammenfassend dürfen wir festhalten: Der Grad der Stützung und Begründung durch die zur Begründung angeführten Sätze richtet sich nach dem Enthaltensein des zu Begründenden in den zur Begründung angeführten Sätzen. Er erreicht die höchste Stufe bei vollkommenem Enthaltensein, das durch die logische Folgerungsbeziehung zwischen dem zu begründenden Satz und den zu seiner Begründung angeführten Sätzen belegt wird. Jede andere Begründung ist unsicher, weil es keine gehaltserweiternden wahrheitstransportierenden Schlußverfahren gibt.
Die Analyse führt uns unversehens in das für die Begründung von Normen typische Begründungstrilemma. Wenn es keinen der Norm zuschreibbaren Wahrnehmungsbegriff "gerecht" geben sollte, sind wir zur Begründung auf das Erschließen der Norm aus anderen Sätzen angewiesen. Die zur Begründung angeführten Sätze müßten wegen des Problems der Gehaltserweiterung von nicht normativen Sätzen auf normative Sätze ihrerseits Sätze mit normativem Gehalt aufweisen. Wie aber ließen sich diese Sätze begründen? Es drohen gleichermaßen unangenehme Dinge: Begründungsregresse oder Begründungszirkel.
In den Worten der Begründungslehre 1982 [4]:
Wenn man sich überhaupt auf Rechtfertigung erheischende Fragen in einer um normative Alternativen geführten Auseinandersetzung einläßt - und dem Juristen bleibt insoweit keine Wahl -, kann man in einem ersten Zugriff die Gründe, die man für eine Wahl anzuführen pflegt, in drei Klassen einteilen. Zur ersten wollen wir alle jene Rechtfertigungen zählen, die die Wahl einer Alternative mit einer Regel, die die Wahl dieser Alternative gebietet, und das Ausscheiden einer Alternative mit einer Regel, welche die Wahl dieser Alternative verbietet, zu begründen versuchen. Diese Art der Begründung wollen wir deontologisch nennen, weil die Wahlentscheidung aus einer als gültig angenommenen Regel gefolgert wird [5]. Die zweite Klasse wird durch jene Rechtfertigungen gebildet, in denen man nicht Normen, sondern Zustände anführt, um eine Wahl zu begründen. Da mag es sein, daß positive wie negative Wahlentscheidungen damit gerechtfertigt werden, daß gerade sie einen bestimmten Zustand herbeiführen und/oder einen anderen Zustand verhindern. Diese Art der Begründung nimmt auf Folgen und Konsequenzen einer Wahl Bezug; wir wollen sie deshalb folgenorientiert und konsequentialistisch nennen [6]. Die dritte Klasse wird durch die Restklasse derer gebildet, die explizit weder Regeln noch Folgen für eine Wahl anführen, sondern schlicht die gewählte Alternative als an sich gut und gerecht, ausgeschiedene Alternativen als an sich schlecht und ungerecht benennen. Sucht man nach einem Namen für diese Art der Begründung, so bietet sich an, sie definitorisch zu nennen [7]. Jeder Versuch, eine der praktisch auftretenden Begründungsarten als gegenüber den anderen vorzugswürdig und darum letztlich maßgebend auszuzeichnen, stößt auf spezifische Schwierigkeiten. Deontologische Rechtfertigungen müssen sich die Frage gefallen lassen, wie denn die zur Rechtfertigung herangezogenen Normen sich ihrerseits rechtfertigen lassen. Zieht man als Antwort wiederum nur eine deontologische Rechtfertigung in Betracht, wird offenkundig, daß man in einen unendlichen Begründungsregreß gerät, wenn man sich nicht zu einem Abbruch des Verfahrens entschließt. Der Abbruch kann dann allerdings nicht deontologisch gerechtfertigt weden. Wie aber soll man die deontologisch nicht weiter begründbaren Normen rechtfertigen? Konsequentialistisch - durch Verweis auf die Folgen, die die Annahme dieser Normen nach sich zieht? Der Ausweg klingt verlockend. Die Analyse von Folgen einer Norm ist eine empirische Angelegenheit. Die Rechtfertigung gewinnt technischen Charakter. Sie scheint uns vom infiniten Normenregreß zu befreien. Doch das gilt nur bis zu der Frage, warum denn die mit einer Norm auftretenden Folgen erstrebt oder verhindert werden sollen. Auf diese Frage kann die rein technische Analyse der Folgen keine Antwort geben. Wir müssen die Folgen bewerten, und die Auszeichnung eines Bewertungskriteriums wirft uns von der empirisch-technischen auf die normative Ebene zurück. Aus diesem Dilemma hülfe uns eine definitorische Rechtfertigung nur heraus, wenn mit ihr zugleich ein Weg gewiesen würde, auf dem man das Zutreffen des Prädikats "gerecht" oder seiner Negation feststellen könnte, ohne auf andere als die zu rechtfertigende Norm Bezug nehmen zu müssen.
Ich rekapituliere die Antworten der Begründungslehre 1982.
Die normative Entscheidungstheorie, die auf den ersten Blick wie für die jenseits der Gesetzesbindung zu treffende Auswahlentscheidung geschaffen scheint, erweist sich als ungeeignet, weil die Entscheidungsregeln allein auf die Maximierung des Nutzens des Entscheiders aus der Wahl einer der zur Verfügung stehenden Alternativen abheben [8]. Den Entscheidungsregeln fehlt damit jede - im Alltagsverständnis - ethische, auf Gerechtigkeitsverwirklichung gerichtete Komponente, weil der Nutzen (auch der Negativnutzen) für die von der Entscheidung Betroffenen nicht in den Blick genommen wird.
Will man den Nutzen der durch die Entscheidung Betroffenen zum Entscheidungskriterium machen, steht man vor einem Meß- und Aggregationsproblem [9]. Die Messung und Aggregierung auf Nominalskalenniveau (Ablehnung = 0, Zustimmung = 1) führte zu schlichten Mehrheitsentscheidungen und wäre blind für die Gründe und die Intensität von Nutzenvorstellungen. Die Messung und Aggregierung der Präferenzen auf Ordinalskalenniveau ist ebenfalls noch sehr grob und führt überdies nicht notwendig zu konsistenten aggregierten Präferenzordnungen, wie wir aus den bekannten Nachweisen von Kenneth Arrow in "Social Choice and Individual Values" wissen.
Man benötigt, um das Programm der Entscheidungsorientierung, der Alternativenwahl, am Gesamtnutzen der von der Entscheidung Betroffenen zu realisieren, eine Messung und Aggregierung der individuellen Nutzen auf Ratioskalenniveau. Die Ratioskala ist eine Intervallskala mit gemeinsamem und damit Vergleiche ermöglichendem Nullpunkt. In der Begründungslehre 1982 ist dargelegt, daß es dieses Skalenniveau für erfragte, in Geldeinsatzbereitschaften gemessene Nutzenbewertungen auch unter Berücksichtigung von Standardisierungsmöglichkeiten nicht gebe, weil die nicht normierten Bewertungen blind gegenüber unterschiedlichen Einkommensverteilungen und die normierten Bewertungen blind gegenüber der die Extrema betreffenden Wunschintensitäten seien.
Überdies wurde den Nutzenaggregationsmodellen moralische Blindheit vorgeworfen (S. 358): Sie verzichten auf eine Bewertung der individuellen Nutzenvorstellungen, müssen darum den Nutzenvorstellungen des strebsamen Familienvaters denselben Raum geben wie denen des notorischen Tunichtguts und können nicht einmal unterscheiden zwischen der Lust des einen am Leid des anderen und der Freude eines Dritten am Wohlergehen des anderen [10]. Der Jurist muß hier unterscheiden dürfen. Er wird deshalb seiner Aufgabe nur gerecht, wenn er nach moralischen Rechtfertigungsmöglichkeiten für die Wahl einer Alternative fragt, die Wahl zwischen Entscheidungsalternativen mithin als Gerechtigkeitsproblem sieht.
Nach diesem Befund mußte die Leitvorstellung alsdann dahin gehen, die Möglichkeiten der definitorischen Rechtfertigung auszuloten. Ich zeichne den Weg nach.
Eine erste Möglichkeit könnte in dem Verzicht liegen, das Prädikat "gerecht" selbst zu definieren. Man hätte es dann als undefinierten Grundbegriff anzusehen, dessen Verwendung aufgrund einer in jedem Menschen angelegten vorsprachlichen Unterscheidungsfähigkeit gelernt wird. Da die vorsprachliche Unterscheidungsfähigkeit für die wertmäßige Auszeichnung von Normen und Zuständen als gerecht oder ungerecht sich auf Entitäten und Eigenschaften bezieht, die anders als etwa Farben, Gestalten, Gerüche und Geräusche nicht mit unseren fünf Sinnen erfaßt werden können, muß man für den vorgeschlagenen Weg auf einen spezifischen Wert- und Gerechtigkeitssinn zurückgreifen, der das Tor zur Wertewelt öffnet. Der Rückgriff auf das Wertgefühl kennzeichnet eine metaethische Position, die man als Wahrnehmungsintuitionismus bezeichnet und im allgemeinen als hinreichend diskreditiert betrachtet. Dabei ist es gar nicht so leicht, den Wahrnehmungsintutionismus bündig zu widerlegen. Schelers Behauptung: "Der eigentliche Sitz alles Wertpriori (und auch des Sittlichen) ist die im Fühlen, Vorziehen, in letzter Linie im Lieben und Hassen sich aufbauende Werterkenntnis resp. Wert-Erschauung", mag man entgegenhalten, daß man nicht wisse, wie man die Behauptung überprüfen solle. Zugleich muß man aber einräumen, daß man einerseits häufig selbst Wertentscheidungen nach dem Wertgefühl trifft und daß man andererseits mit derselben Skepsis ja auch einer Behauptung gegenübertreten kann, nach der der Sitz allen Erfahrungswissens die im Sehen, Hören, Riechen und Tasten sich aufbauende Welterkenntnis ist. Wer beim Erfahrungswissen sich auf Wahrnehmungs- und Beobachtungsevidenz beruft, muß der nicht auch zulassen, daß man sich für die Auszeichnung einer Norm oder eines Zustandes als gerecht auf Wertevidenz stützt? [11]
Eike v. Savigny und Franz v. Kutschera erliegen dem vermeintlichen Zwang in jüngerer Zeit. Sie vernachlässigen dabei aber die immer noch bestehenden Unterschiede der Evidenzerlebnisse für den Aufbau des Erfahrungswissens einerseits und für die Konstruktion eines Normensystems andererseits. Der entscheidende Unterschied liegt in den bisher erfahrenen Leistungen der Evidenzerlebnisse für die Herstellung intersubjektiver Verbindlichkeit. Beobachtungsevidenzen betreffen regelmäßig singuläre Ereignisse, die in Protokollsätzen notfalls unter ausschließlicher Verwendung von Beobachtungsprädikaten festgehalten werden können. Zweifel am Zutreffen des Protokollsatzes lassen sich dadurch ausräumen, daß man den Zweifler bittet, doch selbst hinzuschauen. Nun ist im Zuge der Menschheitsentwicklung die sich auf beobachtbare singuläre Ereignisse beziehende Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen offenbar so sehr vereinheitlicht worden, daß die Beobachtungen verschiedener Personen zu übereinstimmenden Protokollsätzen und damit zu einer intersubjektiv verbindlichen Erfahrungsbasis führen. Für Wertevidenzen trifft das jedenfalls nicht in vergleichbarem Maße zu. Das mag daran liegen, daß es schon hinsichtlich der Bezugsbasis für die Wertschau kein auf der Hand liegendes Analogon zu den singulären Beobachtungsereignissen gibt. Aussagen über Wertverhalte scheinen von vornherein allgemeiner als Aussagen über singuläre empirische Sachverhalte zu sein. Da ist es dann eher möglich, daß man entweder als einzelner die Konsequenzen einer als evident angenommenen Norm nicht überblickt und mit neuem empirischen Wissen zu einer veränderten Wertevidenz gelangt oder aber zu mehreren die Konsequenzen verschieden sieht und von vornherein verschiedene Evidenzerlebnisse verzeichnet. Wir brauchen dem nicht im einzelnen nachzugehen, da das Faktum häufig divergierender Wertevidenzen als solches ausreicht, um den vorgeschlagenen Weg zu verwerfen. Wir können uns für die Lösung unserer Frage nicht damit bescheiden, gerecht als undefinierten Grundbegriff einzuführen, den man Normen und Zielen nach subjektivem Wertgefühl mit intersubjektiver Verbindlichkeit zuschreibt.
Können wir vielleicht statt dessen "gerecht" mit Hilfe anderer Prädikate definieren und im Definiens nur solche Prädikate verwenden, die sich auf im engeren Sinne beobachtbare Eigenschaften und Zustände beziehen? Dann müßte es doch möglich sein, Norm- und Wertfragen ausschließlich über tatsächliche Feststellungen zu den im Definiens ausgezeichneten Merkmalen zu entscheiden. So hilfreich dieser Ausweg wäre, wir haben ihn implizit schon mehrfach verworfen und wollen die entscheidenden Argumente noch einmal explizit anführen. Auffassungen, welche die Möglichkeit verfechten, einen Begriff wie "gerecht" oder "gut" durch ausschließlich empirische Prädikate zu definieren, rechnet man dem metaethischen Naturalismus zu. Sie verfangen sich allesamt in den Fallstricken des sog. "open-question-argument" [12].
Damit verhält es sich so: Man definiere "gerecht" durch ein empirisches Prädikat: sagen wir durch "von der Mehrzahl gewollt". Aufgrund des Eliminierbarkeitsprinzips für Definitionen müßte "gerecht" in allen Kontexten ohne Bedeutungsveränderung durch "von der Mehrzahl gewollt" ersetzt werden können. Die Frage: Die Mehrzahl will die Todesstrafe für Terroristen; aber ist die Todesstrafe für Terroristen auch gerecht?" müßte sich ohne Sinnverlust in die Frage übesetzen lassen: Die Mehrzahl will die Todesstrafe für Terroristen; aber will die Mehrzahl auch die Todesstrafe für Terroristen?" Das geht offensichtlich nicht. Die erste Frage ist sinnvoll; die zweite ist sinnlos, wenn man nicht zu einer Unterscheidung zwischen dem empirisch feststellbaren Willen und dem wahren Willen der Mehrzahl Zuflucht nehmen will und das empirische Prädikat durch ein gleichlautendes nichtempirisches austauscht. Bleibt man beim empirisch feststellbaren Willen und erkennt man die den Terminus "gerecht" verwendende offene Frage als sinnvoll an, so muß man zugleich eingestehen, daß die Bedeutung von "gerecht" durch das empirische Prädikat offenbar nicht ausgeschöpft wird. Was aber bedeutet "gerecht"?
Es ist hier nicht der Ort, die Diskussion darzustellen und die bedeutungstheoretischen Entwicklungen nachzuzeichnen, die das open-question-argument in der sprachanalytischen Philosophie ausgelöst hat. Als ihr Ergebnis können wir die Entdeckung einer wertenden Bedeutungskomponente festhalten, die zugleich erklärt, warum das open-question-argument funktioniert. Der naturalistische Reduktionsversuch krankt daran, daß er allein die in Wertprädikaten häufig auch anzutreffenden deskriptiven Bedeutungsteile in den Blick nimmt und dabei die nicht auf die deskriptive Komponente reduzierbare normative Bedeutungskomponente übersieht. Für das oft untersuchte Wertprädikat "gut" wissen wir, daß seine deskriptiv-empirische Bedeutung situations- und objektabhängig ist und auf höchst unterschiedliche Merkmale verweist, je nachdem ob das Prädikat "gut" auf Messer, Tennisschläger, Autos, Menschen oder Handlungen angewendet wird [13]. Die normativ-empfehlende Bedeutung bleibt dagegen immer unverändert. Ob in einer bestimmten Verwendungssituation die deskriptive oder die normative Bedeutungskomponente im Vordergrund steht, hängt ganz von dieser Situation, insbesondere von den Verwendungsabsichten des Sprechers ab. Er kann das Prädikat zur Beschreibung wie zur Empfehlung benutzen. Benutzt er es zur Empfehlung, wird die normative Bedeutung des Prädikats angesprochen, welche einerseits situations- und objektunabhängig konstant bleibt und andererseits eben nicht auf die empirische Bedeutungskomponente reduziert werden kann.
Ähnlich scheint es sich mit dem Prädikat "gerecht" zu verhalten. Wir verwenden es zur Charakterisierung von Handlungen, Entscheidungen, Normen, Institutionen, Zuständen und Menschen und führen situations- und objektbedingt durchaus unterschiedliche deskriptiv-empirische Merkmale an, um eine konkrete Verwendung zu rechtfertigen. Dabei müssen wir in Streitfragen gewärtigen, daß einerseits das Vorliegen der behaupteten empirischen Merkmale angezweifelt wird, daß aber auch andererseits trotz übereinstimmender Feststellung der empirischen Sachverhalte die Frage aufgeworfen wird: "Ist n wirklich gerecht?" Gerade dies ist ja das open-question-argument. Es ist auch hier sinnvoll. Denn die Frage zielt auf den die empirische Komponente überschießenden Bedeutungsteil des Prädikats "gerecht". Sie fragt nach der Verbindlichkeit (Berechtigung) der mit der Verwendung des Prädikats auf Normen zum Ausdruck gebrachten Befolgungsanordnung. Diese Frage ist mit dem Hinweis auf eine Mehrheitsabstimmung, auf mithin das Zutreffen eines bloß empirischen Prädikats nicht beantwortet. Der Hinweis auf die Mehrheitsentscheidung müßte vielmehr durch eine Regelung gestützt sein, die die Verbindlichkeit von Mehrheitsentscheidungen anordnet. Eine solche Regel würden wir vielleicht akzeptieren, wenn durch entsprechende Kautelen zugleich dafür gesorgt wäre, daß nicht fundamentale Interessen der unterlegenen Minderheit verletzt werden (Grundrechte!). Und selbst die eingeschränkte Mehrheitsregel provoziert noch die Frage nach ihrer Verbindlichkeit, deren Beantwortung wieder mehr als bloß deskriptive Sätze fordert.
Wie es scheint, spielen wir ein Spiel ohne Ende: Führen wir ausschließlich deskriptiv-empirische Argumente an, schöpfen wir den Bedeutungsgehalt von "gerecht" nicht aus; verweisen wir auf Sätze mit normativem Gehalt, laufen wir in einen unendlichen Begründungsregreß. Oder gibt es vielleicht doch eine Möglichkeit, den vom open-question-argument gewiesenen Weg in den infiniten Regreß abzubrechen und das Prädikat "gerecht" aufgrund eines deskriptiven Merkmals zuzusprechen, ohne dem open-question-argument Raum geben zu müssen? Wie ist es, wenn wir "gerecht" statt durch "von der Mehrheit gewollt" durch "von allen gewollt" definieren? Ist es dann noch sinnvoll zu fragen: "Alle wollen die Todesstrafe für Terroristen. Aber ist die Todesstrafe für Terroristen auch gerecht?" Mit dieser Frage berühren wir die Grundlagen der Konsensustheorien der Gerechtigkeit.
Konsensustheorien der Gerechtigkeit dürfen die zuletzt gestellte Frage eigentlich nicht mehr als sinnvoll akzeptieren, wenn sie sich nicht ihres eigenen Fundaments berauben wollen. Für die Konsensustheorien kann man ins Feld führen, daß es müßig erscheine, über etwas zu streiten, was alle wollen [14]. Ob aber dieser naheliegende Hinweis stark genug ist, um das open-question-argument zu erledigen, dessen kann man sich bei näherer Überlegung gar nicht sicher sein. Da drängt sich zunächst der Einwand auf, daß es praktisch nicht möglich sei, den Willen aller festzustellen. Indes erweist sich dieser Einwand als unerheblich. Denn die Frage, ob eine Definition das open-question-argument theoretisch erledigen kann, wird nicht dadurch sinnlos, daß die Definitionsmerkmale eine hypothetische Situation bezeichnen. Wir können immer noch mit Ja oder Nein antworten, und gerade das Ja müßte uns vielleicht dazu führen, über ein Näherungsverfahren nachzudenken, das die praktisch nicht einholbare Zustimmung aller setzen könnte.
Nicht so leicht zu erledigen ist der Hinweis, daß mit einer Einstimmigkeitsregel jedes Entscheidungssystem in unserer durch Interessenpluralität gekennzeichneten Gesellschaft entscheidungsunfähig gestellt werde. Es geht hier zwar noch nicht um die Einführung einer Einstimmigkeitsregel, mit der Minderheiten Mehrheiten knechten könnten, sondern um die Frage, ob es sinnvoll ist, noch nach der Gerechtigkeit einer Norm zu fragen, wenn alle dieser Norm zustimmen. Auch wenn wir sagen, daß das nicht sinnvoll sei, sind wir wohl nicht gezwungen, alle Entscheidungen von der Einstimmigkeit der Entscheidenden oder gar der faktischen Zustimmung aller Betroffenen abhängig zu machen. Ganz sicher ist das allerdings nicht. Fassen wir die Beziehung zwischen "gerecht" und "von allen gewollt" nämlich als Äquivalenz auf, zwingen uns die Regeln der Logik, eine Norm, die nicht von allen gewollt ist, als ungerecht zu bezeichnen. Nehmen wir nun noch die Regel hinzu, die uns die Anwendung ungerechter Normen verbietet, so steht uns in der Tat die Gefahr einer durch Minderheitendiktat verordneten Entscheidungsunfähigkeit ins Haus.
Dem kann man auf zweierlei Weise begegnen. Zum einen ist es denkbar, die Äquivalenzbeziehung zwischen "gerecht" und "von allen gewollt" aufzugeben und statt dessen nur eine partielle Definition anzunehmen, bei der die Zustimmung aller zwar als hinreichende, nicht aber auch als notwendige Bedingung für das Zusprechen des Prädikats "gerecht" fungiert. Dann hätten wir es in der Tat mit einem unerheblichen Gesichtspunkt zu tun. Das Anliegen der Konsensustheorien wäre aber wohl verfehlt.
Es ist zum anderen auch denkbar, daß man nicht einfach die faktische Zustimmung oder Ablehnung als maßgeblich hinnimmt, sondern Anforderungen an vornehmlich das Wissen und das Denkvermögen der Votierenden stellt, die erfüllt sein müssen, um eine faktische Stimmabgabe als maßgebliche Stimmabgabe auszuzeichnen. Dann ließe sich die Äquivalenzbeziehung zwischen "gerecht" und "von allen gewollt" aufrechterhalten. Man müßte sich allerdings zugleich fragen, ob wir es noch mit einer Definition zu tun hätten, in deren Definiens ausschließlich auf beobachtbare, empirische Eigenschaften verwiesen wird.
Die Frage führt uns zum Problemkern des hier diskutierten Lösungsversuchs, das open-question-argument mit einer Definition von "gerecht" durch "von allen gewollt" zu unterlaufen. Denn mit dem Hinweis auf die fehlende kognitive Qualifikation des Votierenden kann ja nicht nur ein Negativvotum für unbeachtlich erklärt werden. Dasselbe Verdikt kann auch ein Positivvotum treffen, so daß die empirisch festgestellte Zustimmung allein nun doch nicht ausreicht, um - bei Zustimmung aller - eine Norm als gerecht auszuzeichnen. Auf das Kompetenzmerkmal wird man nicht verzichten können. Man könnte zwar noch daran denken, kognitive Kompetenz als empirisches Prädikat aufzufassen, und so dem open-question-argument auszuweichen. Es liegt indessen auf der Hand, daß die kognitive Kompetenz sich nicht so einfach feststellen läßt wie eine schlichte Zustimmung. "Kognitive Kompetenz" ist ein Dispositionsprädikat, für welches je nach Verwendungskontext höchst unterschiedliche Reduktionssätze gelten dürften. Der Streit um die Maßgeblichkeit eines Votums wird so leicht zu einem Streit um die Kompetenz des Votierenden, einem Streit, der vornehmlich um die die Kompetenz festlegenden Bedeutungsregeln geführt würde. Ein Ende fände der Streit erst durch die Festsetzung der Bedeutungsregeln für Kompetenz. Mit dieser Festsetzungsmöglichkeit aber hält man sich ein normatives Hintertürchen für die Sonderung der maßgeblichen Voten aus der Gesamtheit der abgegebenen Voten offen.
Es ist das Kompetenzkriterium, welches die Konsensustheorien der Gerechtigkeit einerseits vor dem Einwand bewahrt, sich ohne Schutz den ungeprüften Nutzenvorstellungen der Individuen auszusetzen, welches andererseits aber auch deutlich macht, daß es einen problemlosen Übergang von der Zustimmung aller zu einer Norm auf die Gerechtigkeit und Verbindlichkeit dieser Norm nicht gibt. Wenn wir (1982) dennoch empfahlen, für Gerechtigkeitsüberlegungen am gemeinsamen Kern der Konsensustheorien festzuhalten, so konnten wir dafür zwar keine theoretisch zwingende Beweisführung anbieten, sondern mußten selbst wie auch der Leser letzte Zweifel mit einem "act of faith" überwinden. Das geschah jedoch nicht grundlos. Einerseits erwies sich die Idee, die Gerechtigkeit und Verbindlichkeit einer Norm mit der Zustimmung aller zu verknüpfen, als den konkurrierenden Konzeptionen überlegen, welche sich an Traditionen, Fremdautoritäten und/oder Intuitionen orientieren. Andererseits gestattet die volonté de tous die aus Normen folgende Verpflichtung auf einen besonders tragfähigen Ursprung zurückzuführen: den der Selbstverpflichtung. Macht man mit der Idee ernst, daß der Mensch als Selbstzweck zu achten ist und nicht als Mittel für die Zwecke anderer mißbraucht werden darf, dann ist alle Verpflichtung ursprünglich Selbstverpflichtung. Aus diesem Grunde finden wir heute kaum eine Gerechtigkeitsbestimmung mehr, in der nicht von der Idee der Zustimmung aller Gebrauch gemacht wird, seien Gestalt und/oder Verfahren der Gerechtigkeitsbestimmung auch noch so verschieden. Zugleich treffen wir aber immer wieder auf ein mehr oder weniger verstecktes Kompetenzkriterium, was unsere vorgängige Analyse bestätigt, daß nicht die bloß faktische Zustimmung, sondern ein qualifiziertes Votum in Rede steht.
Die Summe aus 1982: Nur diejenigen Normen sollen gerecht heißen, der alle Betroffenen mit Rücksicht auf ihr wohlverstandenes eigenes Interesse zustimmen können. Es spricht vieles dafür, daß man dieses Verständnis gewonnen haben muß, bevor man weitere Schritte wie die des Diskurses, der methodischen Beratung oder der Klugheitswahl in einer initial postion überhaupt in Erwägung ziehen kann [15]. Wie dem auch sei: mit einer solchen Definition legen wir lediglich den archimedischen Punkt fest, auf den hin unsere Bemühungen um Lösungen, die das Prädikat "gerecht" verdienen, ausgerichtet sind. Sie präjudiziert kaum etwas und läßt insbesondere die Begründungsregeln offen, über deren Befolgung man sich des Zutreffens einer Prädizierung versichern könnte. Die Prozedur wird - soviel können wir von vornherein schon sagen - notwendig hypothetisch sein, weil - von Praktikabilitätserwägungen gänzlich abgesehen - es unter den lebenden Individuen auch solche Betroffene gibt, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen gar nicht in der Lage sind, ihr wohlverstandenes Interesse zu artikulieren, und manche Regeln Menschen betreffen, die noch nicht geboren sind und darum nicht einmal gefragt werden können.
Die Offenheit der Gerechtigkeitsdefinition im Hinblick auf Begründungsregeln und Verfahren ist Chance und Dilemma zugleich: Dilemma, weil noch nicht zu sehen ist, wie in einer Gerechtigkeitsfragen aufwerfenden Entscheidungssituation zu verfahren ist, um dem Gerechtigkeitsanspruch zu genügen. Genau diese Frage steht aber im Zentrum unserer Bemühungen. Wir suchen nach Begründungsregeln für die Wahl einer Entscheidungsalternative. Es soll gewährleistet sein, daß die Gründe für die Entscheidung zunächst in dem Sinne verallgemeinerbar sind, daß sie in jeder Situation, die der jetzigen in allen relevanten Hinsichten gleicht, zu der nämlichen Entscheidung führen. Die Gründe müssen mithin die Form der universellen Norm annehmen (Gleichbehandlung vor der Norm gewährleistende formelle Universalisierungsregel). Und diese Norm soll nun noch in dem Sinne gerecht sein, daß jeder Betroffene ihr im Hinblick auf seine wohlverstandenen Interessen zustimmen können muß. Wie und wann aber kann der zur Entscheidung Berufene auch nur annäherungweise feststellen, daß genau das der Fall ist? Die Antwort auf diese Frage ist schon des nur hypothetischen Charakters der Einigungsprozedur wegen offen. In eben dieser Offenheit aber liegt auch die Chance, ein Verfahren zu entwerfen, das einerseits der geforderten aber nicht einholbaren Zustimmung aller möglichst nahekommt, das aber auch andererseits die hier und jetzt nicht zur Disposition stehenden Besonderheiten der juristischen (speziell: richterlichen) Entscheidungssituation gebührend in Rechnung stellt.
Da gilt es zunächst, die ohnehin nur hypothetische Einigungsprozedur auf eine Entscheidungssituation zurechtzuschneiden, in der nur einer oder einige wenige für und über andere entscheiden. Diese Entscheidungssituation provoziert die Gefahr einer (auch unbewußten!) Parteinahme für partikulare Interessen. Als ein Unparteilichkeit approximierendes Verfahren könnte man nun den Richtern den hypothetischen Rollentausch nahelegen oder - was auf dasselbe hinauskommt - sie mit Rawls in eine Situation zurücktreten lassen, in der sie zwar den Interessenkonflikt noch wahrnehmen, ihre eigene Stellung innerhalb der Gesellschaft aber hinter einem Schleier der Unwissenheit verborgen bleibt mit der Folge, daß sie gewärtigen müssen, auch einmal in einen solchen Konflikt zu kommen [16]. So beherzigenswert die hinter einem solchen Vorschlag stehende Idee ist, so wenig Gewähr bietet der Vorschlag für die durch unbewußte Parteinahme bedrohte Unparteilichkeit. Dem Philosophen steht es nun frei, die Mängel dieser hypothetischen Prozedur mit der Forderung nach einem Diskurs auszugleichen, zu dem jeder, der sich betroffen glaubt, Zutritt hat, um mitreden, seine Interessen darstellen und schließlich mitentscheiden zu können. Für die richterliche Entscheidung scheidet diese Ergänzung der hypothetischen Prozedur aus. Zwar sollte auch sie nicht getroffen werden, ohne jedenfalls die am konkreten Konflikt Beteiligten in ein eingehendes Gespräch über die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten des Interessenkonflikts einzubeziehen. Entscheiden muß jedoch letztlich das Gericht, und für es scheint vom philosophischen Standpunkt aus zur Approximierung der Unparteilichkeit allein die Empfehlung zu bleiben, seine eigene Stellung in dem Interessenkonflikt hinter dem Schleier des Unwissens vergessen zu machen und den Konflikt im hypothetischen Rollentausch aus den unterschiedlichen Stellungen und Interessen der je Betroffenen unter Ausnutzung des zu Gebote stehenden Erfahrungswissens (Kompetenzkriterium!) zu betrachten und zu entscheiden.
Das vorgestellte oder in Erinnerung gerufene und nur ganz wenig aktualisierte Stück Begründungslehre 1982 ist ein starkes Stück Begründungslehre, aber ein Stück mit nicht zu verbergenden theoretischen Brüchen. Die Frage ist, ob es in einer Begründungslehre 1992 ein nicht noch stärkeres Stück gibt, das die Stärken des vorgestellten Verfahrens erhält, seine Brüche aber vermeidet. Es könnte sich hier um das von Rainer Trapp in seiner Frankfurter Habilitationsschrift "Nicht-klassischer Utilitarismus" mit bewundernswerter Akribie, hohem technischem Aufwand, in Auseinandersetzung mit vielfältigen, selbst formulierten oder von anderen vorgebrachten, Einwänden kurz: in wahrhaft analytischer Manier ausgearbeitete Konzept des Gerechtigkeitsutilitarismus (GU) handeln.
Es kennt nur die eine Regel: "Handle in ethisch relevanten Entscheidungssituationen GU-optimal!"
Charakterisiert wird die Regel durch 11 notwendige und zusammen hinreichende Prinzipien, die ich im folgenden wenigstens beim Namen nennen möchte: Prinzip des Subjektivismus, Prinzip der Verdienstberücksichtigung, Anonymitätsprinzip, Prinzip der Bewertungssouveränität, Prinzip der Souveränität bezüglich der Tatsachenannahmen, Prinzip der Pareto-Superiorität, Prinzip der Berücksichtigung der gerechten Nutzenverteilung, Prinzip der symmetrischen Präferenzen, Prinzip der klassisch-utilitaristischen Nutzensteigerung, schwache Ordnungseigenschaft der Nutzenwerte, Prinzip der Ordnungsinvarianz gegenüber positiv linearen Transformationen.
Begründet wird die Regel mit der Abwesenheit eines anderen ihr überlegenen Modells. Damit ist zugleich eingeräumt, daß die Begründung nicht zwingend ist.
GU gebietet, in jeder als moralische Entscheidungssituation zu begreifenden Situation S eine Handlung h von in S maximalem GU-Sozialwert auszuführen. Dieser liegt vor, wenn die durch die Ausführung von h erreichten Nutzenniveaus sämtlicher konsequentionell Betroffener in solcher Weise aggregiert werden, daß neben ihrer Summe gleichzeitig bestimmte vom klassischen Utilitarismus außer acht gelassene Gerechtigkeitsforderungen in quantitativer Form berücksichtigt sind.
Man sieht auf einem Blick, daß Trapp den Vorbehalten Rechnung zu tragen versucht, die zu einer Verwerfung der Nutzenaggregation in der Begründungslehre 1982 geführt haben. Es werden Bewertungsmöglichkeiten subjektiv bestimmter Nutzenniveaus eingeführt, die einerseits GU vor dem Einwand befreien, er sei moralisch blind, und andererseits mit geeigneten Standardisierungen die individuellen Nutzenniveaus auf ein Skalenniveau bringen, das einen interpersonellen Nutzenvergleich und damit die nicht verzerrende Aggregation von Nutzenniveaus ermöglicht.
Was macht GU gegenüber einer definitorischen Lösung, die auf die Zustimmung aller in wohl verstandenen Eigeninteresse abhebt, vorzugswürdig?
GU teilt mit der definitorischen Lösung die Orientierung am Individuum (Subjektivitätsprinzip mit dem Prinzip der Bewertungssouveränität und dem Prinzip der Souveränität bezüglich der Tatsachenannahmen). Allerdings räumt es dem Individuum kein Vetorecht ein, dessen Beschränkung in der definitorischen Lösung durch Kompetenzanforderungen nur schlecht kaschiert wird, sondern es gibt dem Individuum nur die Möglichkeit, seine unter Umständen abweichenden Präferenzen mitbilanziert zu sehen. Eine Entscheidung kann deshalb nach GU auch dann gerecht heißen, wenn sie von einem oder mehreren Individuen abgelehnt wird, ohne daß diesen Individuen mangelnde Kompetenz attestiert werden müßte. Die Unparteilichkeit des Entscheiders wird durch die fast übereinstimmend formulierten Regeln des hypothetischen Rollentauschs zu erreichen gesucht (Anonymitätsprinzip). Die Möglichkeit der moralischen Bewertung der Nutzenvorstellungen des Individuums wird nicht heimlich durch ein Kompetenzkriterium eingeführt, sondern offen durch die Prinzipien der Verdienstberücksichtigung und der Berücksichtigung der gerechten Nutzenverteilung zur Diskussion gestellt.
In der Begründungslehre 1982 werden aus den Gerechtigkeitserwägungen mit Rücksicht auf die Definition von gerecht mit der Zustimmung aller im wohlverstandenen Eigeninteresse Konsequenzen für Entscheidungsbegründungen formuliert. Sie müßten - geringfügig angepaßt - in der Begründungslehre 1992 wie folgt lauten:
Der Rechtsanwender muß als erstes die möglichen alternativen Entscheidungsnormen zusammenstellen, die ihm das legislative Programm für die Entscheidung des konkreten Konflikts läßt. Das kann er nur unter Beachtung der Begründungsschritte, die für das gesetzesgebundene Entscheiden entwickelt worden sind. Vorgängige Entscheidungen und Äußerungen der rechtswissenschaftlichen Dogmatik sind für die Bewältigung dieser Aufgabe von vornehmlich heuristischem Wert. Nach der Zusammenstellung der alternativen Entscheidungsnormen muß eine der Normen für die Entscheidung ausgewählt werden. Bei dieser Wahl ist zunächst auf Vorentscheidungen insbesondere der im Instanzenzug übergeordneten Gerichte zu achten. Den dort festgelegten Entscheidungsnormen kommt wegen des im Universalisierbarkeitsprinzip beschlossenen formalen Gleichbehandlungsgebots präsumtive Verbindlichkeit zu.
Die präsumtive Verbindlichkeit einer Entscheidungsnorm bedeutet, daß der Rechtsanwender diese Norm wählen sollte, es sei denn, er könnte mit Gründen zeigen, daß eine andere der möglichen Entscheidungsnormen dem Gerechtigkeitspostulat besser dient als die in der Vorentscheidung festgelegte Norm.
Das Gerechtigkeitspostulat fordert die Wahl der Norm, die das höchste Sozialnutzenniveau - aggregiert aus den bewerteten Einzelnutzenniveaus - nach sich zieht. Seine Realisierung setzt eine Beschreibung des Sozialbereichs voraus, aus dem der Konflikt stammt und für den eine Entscheidungsnorm als allgemeine Regel ausgewählt werden soll. Sie verlangt des weiteren die Angabe der Wirkungen, welche die Etablierung einer zur Wahl stehenden Entscheidungsnorm in dem betreffenden Sozialbereich hätte. Diese Angabe ist verläßlich nur unter Verwendung des für diesen Sozialbereich geltenden empirisch-theoretischen Gesetzeswissens möglich. Sie erfordert schließlich eine wertende Stellungnahme dazu, wie die von den angegebenen Wirkungen Betroffenen die Norm in ihren Auswirkungen auf das individuelle Nutzenniveau einschätzen. Nach alledem ist die Ersetzung der präjudiziell festgelegten Entscheidungsnorm durch eine andere der legislativ möglichen Entscheidungsnormen nur dann angezeigt, wenn die andere Norm zu einem höheren Gesamtnutzenniveau als die Entscheidung nach der präjudiziell festgelegten Norm selbst dann führt, wenn man für die Entscheidung nach der präjudiziell festgelegten Norm das Interesse an Orientierungssicherheit und Entscheidungsstabilität in Rechnung stellt.
Verläuft die Suche nach präjudiziellen Feststellungen ergebnislos, werden die für die Überwindung präjudizieller Festlegungen soeben skizzierten Gerechtigkeitsüberlegungen schon für die Wahl aus den alternativen Entscheidungsnormen unausweichlich. Es entfällt allein der Wert der Orientierungssicherheit und Entscheidungsstabilität. Das bedeutet, um es noch einmal zu sagen, die Analyse der Auswirkungen jeder der alternativen Entscheidungsnormen für den Fall, daß sie zur allgemeinen Norm im betroffenen Sozialbereich erhoben wird, und die wertende Stellungnahme zu den Leistungen der alternativen Entscheidungsnormen für die Befriedigung anerkennenswerter Interessen und Bedürfnisse. Wenn diese Überlegungen noch keinen Eingang in (auch interdisziplinäre) Untersuchungen der rechtswissenschaftlichen Dogmatik gefunden haben, der Rechtsanwender mithin allein auf sich und seine Kenntnisse verwiesen ist, mag man in der Zumutung solcher Überlegungen eine Überforderung sehen. Dem ist aber nicht dadurch Rechnung zu tragen, daß man den Rechtsanwender von Gerechtigkeitsüberlegungen freistellt. Es gibt keine begründbare Alternative zu dem durch Folgenreflexion vorbereiteten Urteil über die Akzeptabilität einer Alternative im Hinblick auf die bewerteten Interessen eines jeden Betroffenen. Man darf nur nicht verlangen, daß die mit beschränkten Erkenntnismitteln und unter Entscheidungsdruck durchgeführte Reflexion den Grad an Richtigkeitsgewähr verbürgt, den die wissenschaftlich vorbereitete und kontrollierte Folgenreflexion haben kann. Schon die Angabe von bloßen Vermutungen über den gegenwärtigen Zustand des betroffenen Sozialbereichs, über die Auswirkungen, die die Etablierung der verschiedenen Normalternativen zukünftig haben könnten, unter Nennung der für einschlägig gehaltenen empirischen Gesetzmäßigkeiten (Alltagstheorien) und die Trennung der empirisch-deskriptiven Annahmen von normativ-wertenden Stellungnahmen erhöhen mit den Kritikchancen auch die Chancen, im Fortgang der von der rechtswissenschaftlichen Dogmatik aufzunehmenden Diskussion zu Normfestlegungen zu kommen, denen man mit immer größerem Vertrauen Gerechtigkeit prädizieren kann.