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Funktionen des Haftungsrechts

Fragen wir uns nach den Funktionen des außervertraglichen Haftungsrechts, so erweist sich eine Perspektive schnell als verfehlt, die den Blick allein auf den Verletzten und den Verletzer richtet und danach fragt, ob es gerechter sei, den Schaden beim Verletzten zu belassen oder ihn auf den Verletzer abzuwälzen. So gesehen ginge es eigentlich immer nur um eine Abwägung zwischen der Freiheit des einen, sich unbeeinträchtigt von Haftungsnormen zu bewegen, und dem Interesse des anderen am Schutz seiner Rechtsgüter. Diese Perspektive gilt für das außervertragliche Haftungsrecht eigentlich nur noch, wenn es einerseits um Verletzungen von Ruf, Ehre, Persönlichkeit und andererseits um Schädigungen im geschäftlichen Verkehr geht. Hier trifft man noch auf das klassische zweipolige Gegeneinander von Verletzer und Verletztem. Für den in den Schadenssummen um ein Vielfach größeren Unfallbereich (Verkehrsunfälle, Sportunfälle, Haushaltsunfälle, Arbeitsunfälle) ist die Perspektive des Haftpflichtrechts zu eng.

Unfallschäden

Der Haftpflichtfall ist in ein System von Vorsorge- und Versicherungsträgern eingebettet, das das individuelle Haftpflichtrecht z.T. verdrängt, z.T. auf die Festlegung von Regressmöglichkeiten begrenzt und z.T. funktionslos macht. Hier sind rechtspolitische Fragestellungen angesprochen, wie eine Gesellschaft mit dem in der Summe weitestgehend unvermeidlichen Unfallpotenzial umgehen sollte.

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Das derzeitige System einer Mischung von individuellem Haftpflichtrecht und unterschiedlichem Vorsorgerecht beruht nicht auf einer bewussten politischen Entscheidung für ein Modell, sondern auf unreflektiertem Wildwuchs.

Dies lässt sich am Beispiel eines Bibliotheksunfalls mit verschiedenen Geschädigten verdeutlichen.

Ein eifriger Student der Rechtswissenschaft will zu den Quellen des europäischen Zivilrechts vordringen. Sie befinden sich in einem Regal, das nur mit einer Leiter zu erreichen ist. Er besteigt die Leiter und bewaffnet sich statt nur mit einem Folianten zum römischen Recht mit deren vier. Beim Abstieg kommt es zum Absturz. Von einem schweren Folianten getroffen wird in der Variante 1 eine Studentin der Rechtswissenschaft, in der Variante 2 ein Professor der Rechtswissenschaft und in der Variante 3 ein angestellter Anwalt. Die Geschädigten müssen sich einer kostspieligen Heilbehandlung unterziehen, haben Schmerzen, können nicht arbeiten und beklagen die Beschädigung ihrer Kleidung. Das führt zu den Schadensposten: Heilungskosten, Schmerzensgeld, Verdienstausfall, Kleidung.

Welche Lösungen bietet das Recht für den Bibliotheksunfall?

Die BGB-Lösung ist für alle einheitlich. Die Haftungsbegründung ergibt sich für den Körperschaden aus § 823 Abs. 1, 823 Abs. 2 i.V.m. § 229 StGB. Die Haftung für den Sachschaden findet in § 823 Abs. 1 BGB eine Stütze. Zur Haftungsausfüllung sind die §§ 249 ff. BGB heranzuziehen. § 249 Abs. 2 BGB führt zum Ersatz der Heilungskosten, § 252 BGB zum Ersatz des Verdienstausfalls, § 253 BGB zur Ausurteilung eines Schmerzensgeldes und § 249 Abs. 2 oder § 251 BGB zu einem Ersatzanspruch wegen des beschädigten Kleidungsstücks.

Betrachtet man indessen die drei Fälle aus der Perspektive der Gesamtrechtsordnung, sieht die Sache ganz anders aus. Die Studentin hat keinen Ersatzanspruch wegen ihres Personenschadens, weil dieser in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert ist. Zwar zahlt die Unfallversicherung kein Schmerzensgeld. Dennoch schließen §§ 104, 105, 106 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 1 Nr. 8 c SGB VII Ansprüche gegen Kommilitonen aus (Ausnahme: vorsätzlich herbeigeführte Arbeitsunfälle).

Wegen der Sachschäden bleibt es bei dem Anspruch aus §§ 823 Abs. 1, 249 (251) BGB.

Für den Professor ist die Sache kein Arbeitsunfall (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII). Es ist nicht zusammen mit dem Studenten in einer gesetzlichen Unfallversicherung. Für seine Heilungskosten muss er selbst aufkommen. Ihm stehen hier Ansprüche gegen seine private Krankenversicherung und gegen den Dienstherrn nach Beamten- und Beihilferecht zu. Diese Ansprüche beeinträchtigen aber den Schadensersatzanspruch aus §§ 823 Abs. 1, 249 BGB grundsätzlich nicht. Er geht allerdings insoweit auf den Privatversicherer und den Staat über, als diese die Heilungskosten beim Professor ersetzen.

Für den Verdienstausfall gilt § 52 des Beamtenrechtsrahmengesetzes. Der Staat zahlt weiter, erholt sich aber im Wege des Regresses bei dem Verletzer.

Das Schmerzensgeld darf der Professor nach §§ 823 Abs. 1, 253 BGB ebenso für sich behalten wie den Ersatz für den Kleiderschaden nach §§ 823 Abs. 1, 249 (251) BGB.

Beim angestellten Anwalt sieht die Sache ähnlich aus wie beim Professor. Lediglich die Normen, die für den Anspruchsübergang auf die jeweils eintretenden Vorsorgeträger sorgen, ändern sich. Im Hinblick auf die Heilungskosten ist es der § 116 SGB X und im Hinblick auf den Verdienstausfall § 6 des Entgeltfortzahlungsgesetzes.

Fragt man nach einem vernünftigen Grund für die unterschiedliche Behandlung der vom Folianten Getroffenen, dürfte die Frage wohl ohne Antwort bleiben. Bei Licht besehen, erfüllt das private Haftpflichtrecht für den Ausgleich von Unfallschäden keine sinnvolle Funktion. Für den nötigen Ausgleich ist gesorgt oder kann doch durch eine entsprechende (Volks-)Versicherung gesorgt werden. Der Gedanke der Prävention durch Haftungssanktionen greift kaum bei nicht vorsätzlich herbeigeführtem Unfallgeschehen (und dort greifen andere Mechanismen). Der Gesamtausgleich wird mit teuren Regressverfahren belastet, für die letztlich die zu zahlen haben, die schon die Verletzungen zu beklagen hatten.

Dessen ungeachtet sind kurz die rechtlichen Gegebenheiten anzusprechen, mit denen die Unfallschäden heute bewältigt werden. Ich gehe dabei so vor, dass ich zunächst nach den Ansprüchen erster Schadensträger (Verletzter) gegen die verschiedenen Vorsorgeträger frage und dann die Verknüpfung zum individuellen Haftpflichtrecht aufzeige.

Personenschäden

Gesetzliche Unfallversicherung

Die gesetzliche Unfallversicherung ist seit dem 1.1.1997 im Sozialgesetzbuch VII (zuvor für mehr als 100 Jahre in der Reichsversicherungsordnung (RVO)) geregelt. Den Kreis der kraft Gesetzes Versicherten bestimmt § 2 SGB VII. Zu ihm gehören Arbeiter, Angestellte, Schüler und Studenten.

Versicherungsfälle sind der Arbeitsunfall (§ 8 Abs. 1 SGB VII), der Wegeunfall (§ 8 Abs. 2 SGB VII), die Berufskrankheit (§ 9 SGB VII).

An Leistungen erbringt die gesetzliche Unfallversicherung die Heilbehandlung, Pflegedienste und Renten (Aufzählung in § 26 SGB VII).

Die Verknüpfung zum Haftpflichtrecht sieht zunächst einmal so aus, dass die Brücken vollständig abgebrochen werden, soweit es um die Haftung des Arbeitgebers oder der Arbeitskollegen für nicht vorsätzlich verursachte Arbeitsunfälle geht (§§ 104, 105, 106 SGB VII). Selbst gegenüber vorsätzlich handelnden Arbeitgebern und Arbeitskollegen ist der Regress nach § 116 SGB X ausgeschlossen. Gegenüber Drittschädigern wird ein Regress nach § 116 SGB X eröffnet.

Gesetzliche Kranken-, Unfall-, Rentenversicherung

Rechtsgrundlagen für die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung finden wir ebenfalls im Sozialgesetzbuch. Die Krankenversicherung ist im SGB V und die Rentenversicherung im SGB VI geregelt.

Der Kreis der Versicherten besteht aus abhängig Beschäftigten, Rentnern, Familienangehörigen.

Als Versicherungsfälle kennt die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung die Krankheit und die Arbeitsunfähigkeit.

Als Leistungen erbringt die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung die Heilbehandlung, die Bezahlung von Renten, auch die Lohnfortzahlung.

Die Verknüpfung zum Haftpflichtrecht erfolgt über die Eröffnung des Regresses gegenüber Drittschädigern bei Kongruenz von Versicherungsleistung und Schadensersatzanspruch (§ 116 SGB X).

Private Kranken-, Unfall-, Rentenversicherung

Die Rechtsgrundlage für die privaten Versicherungen findet sich im Versicherungsvertragsgesetz. Der Leistungsumfang richtet sich nach den meist in Allgemeinen Versicherungsbedingungen festgehaltenen vertraglichen Absprachen. Die Verknüpfung zum Haftpflichtrecht wird hergestellt über § 67 Abs. 2 VVG, der nach Zahlung den Regress bei Kongruenz von Versicherungsleistung und Schadensersatzanspruch gewährt.

Andere Vorsorgeträger

Auch die Träger der Sozialhilfe kommen als Vorsorgeträger in Betracht. Soweit nach den Vorschriften des BSHG Ersatz geleistet wird, gehen Ersatzansprüche des Empfängers gegen Dritte auf den Sozialhilfeträger nach § 116 Abs. 1 SGB X über.

Das Entgeltfortzahlungsgesetz gibt Ansprüche gegen den Arbeitgeber, die technisch von der gesetzlichen Krankenversicherung abgewickelt werden. Hier wird eine Verknüpfung zum Haftpflichtrecht über § 6 des Entgeltfortzahlungsgesetzes hergestellt.

Weitere Vorsorgeträger sind die nach Unterhaltsrecht zur Hilfe Verpflichteten. Es kommen nach §§ 1360, 1361 die Ehegatten und nach §§ 1601 ff. BGB die Verwandten in Betracht.

Leisten die Unterhaltsverpflichteten Ausgleich für Schäden, für ein Dritter einzustehen hat, so ist die Verknüpfung zum Haftpflichtrecht nicht ausdrücklich geregelt. Das wirft die Frage nach einer allgemeinen Regressregel auf. Hier stehen in Konkurrenz zueinander Ansprüche aus § 812 BGB (ungerechtfertigte Bereicherung), §§ 670, 683, 677 BGB (GoA), § 255 BGB, § 285 BGB, § 426 BGB.

Ich selbst halte den Gesamtschuldausgleich (§ 426 BGB) für die geeignetste Verknüpfung zum Haftpflichtrecht des BGB.

Sachschäden

Auch bei Sachschäden kann sich das bei Personenschäden typische Aufeinandertreffen individueller Haftpflichtansprüche mit Ansprüchen gegen Vorsorgeträger ergeben.

Berühmt ist der Fuldaer Dombrandfall (RGZ 82, 213), bei dem ein Träger der Baulast nach öffentlichem Recht mit dem Brandstifter zusammentraf. Auch hier stellt sich die Frage nach der zutreffenden allgemeinen Regresskonzeption.

Auch Unterhaltsverpflichtungen können auf den Ausgleich von Sachschäden gehen. Die Verbindung zum Haftpflichtrecht führt wieder zu der Frage nach der zutreffenden Regresskonzeption.

Die Frage nach der zutreffenden Regresskonzeption stellt sich nicht bei Schadensversicherungen. Dabei handelt es sich um Privatversicherungen nach dem Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Für sie ist der Regress nach Leistungserbringung gemäß § 67 Abs. 2 VVG gegen den Drittschädiger eröffnet.

Im Bereich der Unfallschäden gibt es regelmäßig keine Schwierigkeiten mit der Feststellung der Tatbestandsvoraussetzungen der Normen des individuellen Haftpflichtrechts. Schwierigkeiten bereitet der Praxis allenfalls das Gewichten unterschiedlicher Haftungsbeiträge zueinander, wenn sowohl der Verletzte wie der Geschädigte zu dem Unfallgeschehen beigetragen haben (§ 254 BGB).

Persönlichkeitsschutz und Unternehmensschutz

Anders als im Unfallschadensbereich erfüllt das außervertragliche Haftungsrecht bei den Verletzungen von Ruf, Ehre, Persönlichkeit und den Schädigungen im geschäftlichen Verkehr durchaus sinnvolle Funktionen, weil es hier keinen Rundumschutz jenseits des individuellen Haftpflichtrechts gibt. Allerdings treten erhebliche Schwierigkeiten bei der Feststellung der Haftungsbegründung, den Tatbestandsfeststellungen, auf, weil der Rechtsgüterschutz des Deliktsrechts an sich auf diese Art von Verletzungen und Schädigungen nicht ausgerichtet ist. Hier mussten zunächst neue Rechtsgüter, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht am eingerichteten ausgeübten Gewerbebetrieb, als im Rahmen des §§ 823 Abs. 1 BGB zu schützende Güter entwickelt werden. Mit der Entwicklung war ein Systembruch verbunden. Denn in dem Bereich äußerlich klar abgrenzbarer Rechtsgüter zogen mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb Generalklauseln (Leerformeln) ein, denen man zu Zwecken der Rechtsanwendung erst noch von Fall zu Fall Konturen verleihen musste. Wir werden das bei der Analyse der Grundtatbestände des Deliktsrechts im engeren Sinne feststellen. 

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© Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann. 
Bei Fragen und Unklarheiten wenden sich meine Studenten bitte an:
Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann.
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