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Von den absonderlichen Weltbetrachtungen der Juristen

Sie haben sich entschlossen, Jura zu studieren, und damit auf den Weg zu einer besonderen Spezies Mensch begeben. Ein Ausdruck dieser Besonderheit ist, dass Juristen (weiblichen wie männlichen Geschlechts) zu absonderlichen Weltbetrachtungen zu neigen scheinen und eine große Freude daran haben, juristische Rätsel aufzugeben und zu lösen. Drei in der Vorlesung erörterte Beispiele möchte ich hier noch einmal aufgreifen: den Lippenstift, § 164 Abs. 2 BGB und den Erwerb einer Schachtel Zigaretten.

Der Lippenstift

Der Lippenstift ist dem Laien ein Mittel zum Schutz empfindlicher Hautpartien gegen Witterungseinflüsse. Auch die Funktion zum Verdecken körperlicher Unvollkommenheiten oder zum Hervorheben besonderer Reize kommt einem noch in den Sinn. Wer aber hätte gedacht, was das höchste deutsche Strafgericht, der Bundesgerichtshof in Karlsruhe, vor gar nicht langer Zeit zum Lippenstift zu verkünden wusste:

Der Lippenstift ist kein taugliches Tatmittel zum schweren Raub (BGH NJW 1996, 2663).

Verständlich wird diese Bemerkung nur vor dem Hintergrund der Unterscheidung des einfachen und des schweren Raubes im Strafgesetzbuch.

§ 249 Abs. 1 StGB bestimmt zum einfachen Raub:

Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.

§ 250 Abs. 1 StGB legt zum schweren Raub fest:

(1) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn

  1. der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub
    1. eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
    2. sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden,
    3. ...
  2. ...

Die Antwort auf die Frage, ob ein Lippenstift ein taugliches Mittel zum schweren Raub ist, legt fest, ob jemand, der einem anderen einen Lippenstift in den Rücken drückt und mit dem Erschießen droht, für mindestens ein oder für mindestens drei Jahre hinter Gitter kommt. Darüber nachzudenken, lohnt sich schon.

Juristisches Rätsel § 164 Abs. 2 BGB

Ein Satz, der sich dem Laienverständnis nicht nur auf den ersten Blick verschließt, ist dieser:

"Tritt der Wille, in fremdem Namen zu handeln, nicht erkennbar hervor, so kommt der Mangel des Willens, im eigenen Namen zu handeln, nicht in Betracht" (§ 164 Abs. 2 BGB)

Verständnis für die unverständliche Rechtsregel können wir dadurch gewinnen, dass wir uns den Kontext der Regel verdeutlichen. Das ist eine erste wichtige Grundregel des juristischen Denkens.

Es geht um eine Regel im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Und eine weitere - fast banale - Regel für das Erfassen des Regelungsbereichs eines Gesetzes ist die, dass man einen Blick in das Inhaltsverzeichnis werfen sollte.

Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB)

Das Bürgerliche Gesetzbuch als das Grundgesetz des Privatrechts ist reichlich kompliziert gebaut und zudem in einer Sprache verfasst, die zwar den Juristen durch begriffliche Klarheit besticht, die aber den Bürger kaum zu einer Feierabendlektüre über sein Recht einlädt. Es hat 5 Bücher: den Allgemeinen Teil, das Schuldrecht, das Sachenrecht, das Familienrecht und das Erbrecht.

In seinem Aufbau sucht das Gesetz soweit wie möglich den Weg zum Allgemeinen und Grundsätzlichen. So stellt es den Einzelregelungen des Wirtschafts-, Vermögens-, Familien- und Erbrechts im 2. bis 5. Buch einen Allgemeinen Teil voraus.

Der Allgemeine Teil soll bestimmte Regeln vor die Klammer ziehen, die häufiger auftretende Sachprobleme betreffen, z.B. die Rechtsfolgen eines Irrtums bei der Abgabe einer bindenden Erklärung (§§ 119 ff. BGB) oder die Voraussetzungen der Stellvertretung bei der Vornahme einer rechtlich bedeutsamen Handlung (§§ 164 ff. BGB). Zu diesen allgemeinen Regeln gehören Vorschriften über die im Bürgerlichen Recht handelnden Personen, die in natürliche Personen und juristische Personen aufgeteilt werden. Hinzu kommen einige allgemeine Rechtssätze über Sachen, d.h. die körperlichen Gegenstände, an welchen Rechte begründet werden können. Vor allem enthält der Allgemeine Teil Regeln über die Rechtsgeschäfte, d.h. auf die Herbeiführung von Rechtsfolgen gerichtete Erklärungen zur Ordnung der privaten Rechtsverhältnisse. Der häufigste Anwendungsfall solcher Rechtsgeschäfte ist der Vertrag, welcher das bei weitem wichtigste Mittel darstellt, um die eigenen Angelegenheiten zu ordnen. Vorschriften über die Eigenart bestimmter Verträge bilden einen wesentlichen Teil der übrigen Bücher des Bürgerlichen Gesetzbuchs, sei es im Schuldrecht (z.B. Kauf oder Miete), im Sachenrecht (z.B. Übereignung von Grundstücken durch Auflassung und Eintragung ins Grundbuch), im Familienrecht (z.B. Eheverträge zur Vereinbarung eines bestimmten Güterstandes oder Unterhaltsverträge zur Regelung der Unterhaltspflicht nach einer Ehescheidung) oder im Erbrecht (z.B. Erbvertrag oder Erbverzichtsvertrag).

Das Streben nach allgemeinen Regeln, die dann fallweise modifiziert werden müssen, liegt dem Aufbau des Bürgerlichen Gesetzbuchs auch sonst zugrunde. So wird das dem Schuldrecht gewidmete zweite Buch wiederum durch einen recht umfangreichen Allgemeinen Teil (§§ 241 bis 432 BGB) eingeleitet. Erst im letzten Abschnitt stellt das Gesetz besondere Vorschriften für die jeweiligen Lebenssachverhalte auf, für welche der Laie eine Orientierung erwartet - wie etwa das Mietverhältnis oder das Arbeitsverhältnis. Diese konkreten Bestimmungen sind dann jeweils um die passenden Regeln aus dem Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs und aus dem Allgemeinen Teil des Schuldrechts zu ergänzen. Die Notwendigkeit, Normengruppen aus verschiedenen Abschnitten des Gesetzes zur Lösung eines Einzelfalles miteinander zu kombinieren, stellt eines der Hauptprobleme bei der Einarbeitung in das Zivilrecht dar. Wir werden das später an einem kleinen Beispielsfall demonstrieren.

Machen wir das Gesagte für die Auflösung unseres Rätsels fruchtbar, so mag ein Blick in Abs. 1 des § 164 BGB den Schleier schon ein wenig lüften:

"Eine Willenserklärung, die jemand innerhalb der ihm zustehenden Vertretungsmacht im Namen des Vertretenen abgibt, wirkt unmittelbar für und gegen den Vertretenen. Es macht keinen Unterschied, ob die Erklärung ausdrücklich im Namen des Vertretenen erfolgt oder ob die Umstände ergeben, daß sie in dessen Namen erfolgen soll."

Beachtet man nun noch, dass die Regel im Abschnitt über die Rechtsgeschäfte steht, wird deutlich, dass wir es mit rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen zu tun haben, bei denen eine Zurechnung der Rechtsfolgen (Rechte und Pflichten) an einen anderen als den Handelnden (H) erfolgt. Wirtschaftlich gesehen geht es um eine Art der arbeitsteiligen Wahrnehmung von Interessenbefriedigungen. Der eigentliche Interessent (I) an einer Leistung tritt bei demjenigen, der zur Leistung in der Lage ist (A), nicht persönlich auf. Rechtstechnisch kann die Arbeitsteilung in Form einer Kommission (der mittelbaren oder verdeckten Stellvertretung) oder aber in Form der offenen Stellvertretung durchgeführt werden. Bei offener Stellvertretung wird der Interessent Vertragspartner dessen, der über die Leistungsmöglichkeiten verfügt.

Offene Stellvertretung

Bei verdeckter Stellvertretung wird der Handelnde Vertragspartner dessen, der über die Leistungsmöglichkeiten verfügt.

Verdeckte Stellvertretung (Kommission)

Die Grundregel lautet, dass aus rechtsgeschäftlichen Erklärungen der Handelnde verpflichtet wird, es sei denn, er handele offen im Namen eines anderen und habe Vertretungsmacht für den anderen zu handeln. Ist diese Grundregel der Inhalt des § 164 Abs. 2 BGB? Viele meinen das. Aber dann hätte der Gesetzgeber etwas angeordnet, was auch ohne diese Anordnung gälte, und das noch in einer unverständlichen Sprache. Eine genauere Analyse zeigt indessen, dass der Regelungsgehalt des § 164 Abs. 2 BGB woanders liegt und § 164 Abs. 2 BGB durchaus nicht überflüssig ist.

Um das zu verstehen, muss man einen Bogen zur allgemeinen Rechtsgeschäftslehre und zu den Folgen von Willensmängeln bei rechtsgeschäftlichen Erklärungen schlagen. Irrtumsbehaftete Willenserklärungen (der Erklärende erklärt objektiv etwas, was er subjektiv gar nicht erklären wollte) führen nicht zur Unwirksamkeit der Erklärung, sondern nach § 119 Abs. 1 BGB zur Anfechtbarkeit. Erst die Anfechtung macht die Erklärung unwirksam (§ 142 BGB). Mit der Anfechtung muss der Anfechtende seinem Vertragspartner den Schaden ersetzen, den dieser im Vertrauen auf die Gültigkeit der Erklärung erlitten hat (§ 122 BGB). Nun könnte auch der Vertreter, der seine Vertreterstellung nicht hinreichend deutlich gemacht hat und deshalb selber Vertragspartner geworden ist (Eigengeschäft des Handelnden), sich nach allgemeinem Irrtumsrecht darauf berufen, dass er das nicht gewollt habe, und seine Erklärung anfechten. Genau das aber verhindert § 164 Abs. 2 BGB. Dessen Funktion ist es, die Bindung des Vertreters an das von ihm geschlossene Geschäft nicht erst zu begründen, sondern anfechtungsfest zu machen. Eine zunächst unverständliche Norm bietet so kein Geheimnis mehr.

Die Aufspaltung des Zigarettenerwerbs in (mindestens) drei Verträge

Die Aufspaltung des Zigarettenerwerbs in (mindestens) drei Verträge findet eine ähnlich einleuchtende Erklärung. In dem einen Vertrag gibt man Versprechen ab, die zu Verpflichtungen (Obligationen) der Versprechenden führen: des Verkäufers, dem Käufer das Eigentum an der gekauften Sache zu verschaffen und die Sache zu übergeben (§ 433 Abs. 1 BGB), des Käufers, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen (§ 433 Abs. 2 BGB). Mit den in diesem einen Vertrag enthaltenen Verpflichtungen hat sich aber in der Eigentumswelt noch nichts verändert. Wann hier Veränderungen eintreten, ist im Sachenrecht des BGB geregelt.

Bei Grundstücken gehört dazu die Einigung über die Veränderung und die Eintragung der Veränderung in das bei den Amtsgerichten geführte Grundbuch (§ 873 BGB), bei beweglichen Sachen wie Zigarettenschachteln und Geldstücken und -scheinen die Einigung über den Eigentumsübergang und die Übergabe der Sachen (§ 929 BGB). Der Gesetzgeber wollte die Eigentümerstellung nach außen dokumentieren durch die Eintragung ins Grundbuch einerseits und die tatsächliche Innehabung der Sache andererseits. Das dient der Sicherheit des Rechtsverkehrs, der sich für die Frage der Eigentümerstellung an Äußerlichkeiten orientieren können soll. Es ist eine vor allem für den Distanzkauf und den Verkauf von Waren, über die der Verkäufer noch gar nicht verfügt, wirtschaftlich sinnvolle Aufteilung und Trennung des obligatorischen vom dinglichen Rechtsgeschäft. In dem einen werden die Pflichten begründet, in dem anderen erfüllt und das in den Formen, die ein anderer Rechtsbereich dafür vorsieht.

Von mindestens drei Verträgen habe ich gesprochen, weil manche für die Erfüllung der jeweiligen Vertragspflichten einen sog. Erfüllungsvertrag annehmen. Die Vertreter dieser Auffassung müssen fünf Verträge annehmen: den Kaufvertrag, den Übereignungsvertrag mit der Schachtel Zigaretten, den Übereignungsvertrag mit dem Geldstück und schließlich noch zwei Erfüllungsverträge, die zusammen mit den Leistungen zum Erlöschen der schuldrechtlichen Verpflichtungen führen (§ 362 Abs. 1 BGB).

Das Wechselgeld

Die Anzahl der Verträge erhöht sich, wenn der Käufer den Kaufpreis nicht mit passenden Münzen oder Scheinen begleichen kann. Nehmen wir einmal an, dass die Schachtel vier Euro kostet, der Käufer aber mit einem Fünf-Euro-Schein bezahlen will. Hier ist für jedermann klar, dass dem Käufer ein Anspruch auf Herausgabe des Wechselgeldes in Höhe von einem Euro zustehen muss. Die Begründung für diesen Anspruch fällt aber gar nicht so leicht. Zwei Hauptbegründungsmöglichkeiten stehen sich gegenüber. Die eine nimmt einen vertraglichen Anspruch des Käufers gegen den Verkäufer an, die andere einen Bereicherungsanspruch. Beide Begründungsmöglichkeiten stehen vor spezifischen Schwierigkeiten.

Die am Zahlungsvorgang Beteiligten wechseln häufig gar keine Worte miteinander. Wie soll es dann zu einem Vertragsschluss kommen? Doch müssen Vertragserklärungen nicht unbedingt ausdrücklich erfolgen. Sie können auch aus den Handlungen erschlossen werden. Man spricht dann von konkludenten Willenserklärungen. Das könnte hier durchaus in Betracht kommen. Doch um welchen Vertragstyp soll es sich handeln? Keiner der im BGB geregelten Vertragstypen will hier passen. Das ist aber nicht weiter schlimm. Das Schuldrecht ist vom Grundsatz der Vertragsfreiheit geprägt. Die Vertragsparteien sind nicht gebunden, einen im Gesetz geregelten Vertragstyp zu wählen. Sie können neue Vertragstypen schaffen. Man spricht dann von Verträgen eigener Art oder auch von Verträgen sui generis.

Der Bereicherungsanspruch aus § 812 Abs. 1 BGB braucht keine rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen. Hier liegen die Probleme auf anderen Ebenen. Zunächst einmal unterscheidet § 812 Abs. 1 BGB die Leistungsbereicherung von der Nichtleistungsbereicherung. Mit welcher Art von Bereicherung haben wir es mit Blick auf den überschießenden Geldwert zu tun? Eine Leistung ist eine zweckgerichtete Vermögensmehrung. Einen Zweck verfolgt der Käufer aber nur mit Blick auf seine Schuld von vier Euro. Diese Schuld möchte er begleichen. Mit Blick auf den überschießenden Wert wird kein Zweck verfolgt. Das könnte die Annahme einer Leistung ausschließen. Darüber hinaus hätte man bei einer Leistungskondiktion mit dem Ausschluss der Kondiktion durch § 814 Fall 1 BGB zu kämpfen. Danach ist der Anspruch ausgeschlossen, wenn der Leistende wusste, dass es nicht zur Leistung verpflichtet war. Und unser Käufer wusste sehr wohl, dass er nur vier Euro schuldete. Mit dieser Schwierigkeit hätte die Annahme einer Bereicherung in sonstiger Weise nicht zu kämpfen. § 814 BGB schließt nur die Leistungskondiktion aus, nicht aber die Nichtleistungskondiktion. Gegen das Bereicherungsrecht spricht unter Umständen auch, dass der Bereicherungsanspruch eine spezifische Schwäche aufweist, weil er lediglich auf die noch vorhandene Bereicherung gerichtet ist (§ 818 Abs. 3 BGB). Man wird auch diese Schwäche überwinden können; aus dem Text des § 818 Abs. 3 BGB ließe sich das aber nicht ohne Weiteres begründen.

Es spricht daher vieles dafür, den weniger schwierigen Weg über die Begründung eines vertraglichen Anspruchs zu gehen. Mit ihm kommen zwei weitere Verträge ins Spiel. Der eine ist auf die Begründung der Rückzahlungsverpflichtung gerichtet, der andere beinhaltet die Einigung, die nach § 929 BGB erforderlich ist, um dem Käufer das Eigentum an dem Wechselgeld zu verschaffen.

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© Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann. 
Bei Fragen und Unklarheiten wenden sich meine Studenten bitte an:
Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann.
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