4. Der Wandel des Schadenstragungssystems und der Wirkungsbereich des zivilistischen Schadensrechts
Im individualistischen Schadenstragungssystem des BGB geht es um die Frage, welches von den an einem konkreten Schadensfall beteiligten Individuen den Schaden zu tragen hat. Seine Grundregel lautet, daß dies der Geschädigte sei, wenn nicht der Schädiger einen gerade für den Geschädigten eingreifenden Haftungstatbestand verwirklicht hat (Tatbestandsprinzip). Streitet ein Haftungstatbestand für den Verletzten, so tritt der Ausgleichsgedanke in Funktion. Dieses Schadenstragungssystem verfehlt die Realität (vgl. vor §§ 823 ff. Rz. 19 ff.). Es verstellt den Blick für die Einbettung der am Schadensfall beteiligten Individuen in ein immer enger geknüpftes Netz kollektiver Sicherungen gegen Schadens- und Haftpflichtrisiken, in ein komplexes Schadenstragungssystem mit einer Vielfalt von Vorsorge- und Versicherungseinrichtungen (Kötz passim). Diese sind mitbeteiligt an dem mehrfachen, je eigenen Gesetzen gehorchenden, Hin-, Weiter- und Zurückschieben der durch den Schadensfall entstandenen Belastungen bis zur Herstellung eines neuen Ruhezustandes (vgl. Medicus JuS 1972, 553). Soweit nicht wie für die aus nicht vorsätzlich herbeigeführten Arbeitsunfällen entstandenen Schäden das Haftungs- und Schadensrecht des BGB prinzipiell unanwendbar ist (vgl. Gitter Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, 1969), stellt sich die Frage nach der Funktion dieses Rechts in einem System, in dem es bei der Mehrzahl der Fälle nicht mehr darum geht, das ein Individuum treffende Unglück einem anderen zuzurechnen und auf es überzuwälzen. Kann man nicht in Anknüpfung an den Ausgleichsgedanken mit Fug geltend machen, das durch einen Verkehrsunfall verletzte Individuum, welches wegen des Eintretens der Krankenversicherung keine Behandlungskosten trägt, noch wegen des vom Arbeitgeber weitergezahlten Lohns eine Einkommenseinbuße erleidet, habe insoweit auch keinen Schaden erlitten? Nach derzeit weitgehend unangefochtener Auffassung kann man das nicht. Einig in der Wertung, daß der nach zivilrechtlichen Zurechnungskriterien haftpflichtige Verletzer nicht ungerupft davon kommen solle, bemüht man den versagten Vorteilsausgleich" (Keuk VersR 1976, 402), um eine ausgleichungsfähige Lücke im Vermögen des Verletzten feststellen zu können, und denkt sich, wo der Gesetzgeber nicht mit der Anordnung von Legalzessionen (§ 1542 RVO, § 67 Abs. 1 VVG, § 4 LohnfortzahlungsG, § 87 a BBG u. a.), Abtretungskonstruktionen (§§ 255, 281) oder Überleitungsanzeigen (§ 90 BSHG) helfend eingesprungen ist, eine Vielzahl von Regreßwegen aus (Selb), die es den Versorgungsträgern ermöglichen, den ihnen entstandenen Schaden bei dem Schädiger respektive dessen Haftpflichtversicherer zu liquidieren.
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