Mit dem Wissen darüber, daß wir nicht mit den Augen sehen und den Ohren hören, sondern daß unser Gehirn die Erregung spezifischer Neuronen in sich unabhängig davon, wer oder was die Erregung ausgelöst hat, als Sinnesempfindung interpretiert, sind wir auf dem Weg zum Verständnis der bewußten Wahrnehmung eines Ereignisses allenfalls einen kleinen Schritt vorangekommen. Wenn wir nicht gerade konkrete Anhaltspunkte für anatomische Abnormitäten bei einem Menschen haben, dürfte es kaum schaden, weiterhin vom Alltagsverständnis auszugehen, weil im Normalfall die von den unterschiedlichen Rezeptoren aufsteigenden Nervenbahnen die für sie spezifischen Neuronen erreichen. Indessen ist mit der Ankunft der von den Rezeptoren ausgehenden Impulse in den sensorischen Arealen des Gehirns noch lange nicht das erreicht, was man als bewußtes Erleben und Wahrnehmen bezeichnet. Mit der Erregung der sensorischen Neuronen haben wir erst einen Teil eines ungeheuer komplexen neuronalen Verarbeitungsprozesses vor uns, der auch nichtsensorische Areale des Gehirns erfaßt, in vielen Einzelheiten noch unerforscht ist und deshalb manchen Modellspekulationen Raum gibt. Die Komplexität des Systems läßt allein schon die Zahl von 100 Milliarden und mehr Neuronen erahnen, die über eine geschätzte Zahl von 1.000 bis 10.000 Faserverzweigungen pro Neuron in veränderlicher, kaum zählbarer Weise miteinander Verbindung aufnehmen und kommunizieren können. Dabei ist zu beachten, daß erstens von sensorischen Feldern der Hirnrinde Fasern zum Thalamus zurückziehen und durch diese Wechselbezüglichkeit der Funktionszustand der Rinde Einfluß darauf hat, wie der Thalamus die zur Rinde laufenden Signale prüft, und daß zweitens von den Neuronen in den jeweiligen Rindenfeldern Fasern ausgehen, die auf weiter entfernt liegende Rindenfelder, die sog. Assoziationsfelder, einwirken. Der Anteil der Assoziationsfelder zu den primären Sinnesfeldern der Rinde beträgt beim Menschen 3 : 1. Die Assoziationsfelder tragen somit den Hauptanteil an der Verarbeitung aller sensorischen Signale, die das Gehirn erreichen. In das bis heute nicht völlig durchschaute Aufnehmen, Weitergeben und Zurückgeben von Erregungspotentialen ist das für uns wichtige bewußte Erleben einer Situation, die bewußte Wahrnehmung, eingebettet. Wenn wir seine Voraussetzungen beschreiben, überschreiten wir die Grenzen der physiologisch feststellbaren Eigenschaften eines Prozesses.
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