Gericht: BGH 6. Zivilsenat, Datum: 01.07.1986, Az: VI ZR 294/85
Leitsatz
Ist streitig, ob der aus Delikt in Anspruch genommene Schädiger bei der Verursachung
des Schadens bewusstlos war, so trifft ihn die Beweislast für die Bewusstlosigkeit; nicht
etwa hat der Geschädigte den Beweis für eine vom Willen beherrschbare Handlung des
Schädigers zu führen.
Fundstelle
NJW 1987, 121-122 (LT1)
VersR 1986, 1241-1242 (ST1)
Zum Sachverhalt (vereinfacht):
Die Klägerin befuhr mit ihrem Pkw eine Bundesstraße, als der entgegenkommende, bei
der Beklagten haftpflichtversicherte Pkw des Ernst St. auf die Gegenfahrbahn geriet und
frontal gegen den Pkw der Klägerin stieß. Die Klägerin wurde schwer verletzt; Ernst St.
verstarb auf dem Transport ins Krankenhaus. Die Beklagte hat ihre volle Haftung für den
Unfallschaden im Rahmen des Straßenverkehrsgesetzes anerkannt.
Die Klägerin verlangt die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Die Beklagte ist der
Ansicht, die gesamten Umstände des Unfallablaufs ließen nur den Schluss zu, dass Ernst
St. einen Herzinfarkt erlitten habe und bereits bewusstlos gewesen sei, als sein Fahrzeug
aus der Kolonne ausscherte.
Beide Vorinstanzen haben der Klägerin ein Schmerzensgeld von 10.000 DM zuerkannt. Mit
der (zugelassenen) Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Aus den Gründen:
1. Im Ergebnis mit Recht legt das Berufungsgericht der Beklagten die Beweislast dafür
auf, dass ihr Versicherungsnehmer Ernst St. bewusstlos war, als er den Verkehrsunfall und
die Verletzung der Klägerin verursacht hat. Dieser Beweislastverteilung steht nicht, wie
die Revision meint, der Umstand entgegen, dass die Klägerin als Voraussetzung des von ihr
geltend gemachten Anspruchs aus
§ 823 Abs. 1 BGB eine "willkürliche"
Handlung des Ernst St. zu beweisen habe.
a) Richtig ist der Ausgangspunkt der Revision, dass - jedenfalls nach heutigem
Verständnis - von einer "Handlung" nur bei einem Verhalten gesprochen werden
kann, das der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung unterliegt und somit beherrschbar
ist. Allein ein solches "willkürliches" Verhalten kann dem Schädiger
zugerechnet werden; "unwillkürliche" Körperbewegungen, die vom menschlichen
Bewusstsein nicht kontrolliert werden können, denen also jede Willenssteuerung von
vornherein fehlt, vermögen eine Verschuldenshaftung nicht zu begründen (BGHZ 39, 103,
106 ff; BGB-RGRK, 12. Aufl., § 823 Rdn. 72; MünchKomm-Mertens, BGB 2. Aufl.,
§ 823 Rdn. 17; Larenz, Schuldrecht II 12. Aufl., § 71 Ia S. 589 f;
Esser/Schmidt, Schuldrecht I 6. Aufl., § 25 III 1 S. 353).
b) Diese Erwägung rechtfertigt es jedoch nicht, dem Geschädigten in allen Fällen, in
denen der Schädiger geltend macht, den Schaden nicht durch ein willensabhängiges
selbsttätiges Handeln herbeigeführt zu haben, den Beweis für eine willensgesteuerte
Handlung aufzuerlegen. Vielmehr ist insoweit zu unterscheiden, aus welchen Gründen es
möglicherweise an einem beherrschbaren Verhalten gefehlt hat.
Bringt der Schädiger vor, der Verletzungsvorgang sei unter physischem Zwang erfolgt
oder als unwillkürlicher Reflex durch fremde Einwirkung ausgelöst worden, so beruft er
sich auf außerhalb seiner Person liegende Umstände, welche die Willenssteuerung seines
Verhaltens ausgeschlossen haben sollen. In derartigen Fallgestaltungen, bei denen bereits
das äußere Erscheinungsbild eines eigenständigen Handelns des Täters in Frage steht
(vgl. Schewe, Reflexbewegung, Handlung, Vorsatz (1972) S. 24 ff, 55, 69), hat
allerdings der Geschädigte den Beweis für eine vom Willen getragene Handlung des
Schädigers zu führen (BGH = aaO). Anderes gilt jedoch für die Fälle, in denen eine der
Willenslenkung unterliegende Handlung des Schädigers aufgrund innerer Vorgänge, nämlich
deshalb fraglich erscheint, weil der Täter möglicherweise bei der Schadensverursachung
bewusstlos war (a. A. Baumgärtel, Handbuch der Beweislast im Privatrecht, § 823 BGB
Rdn. 3 und § 827 BGB Rdn. 3). Im Gegensatz zu der Schadensverursachung durch ein
Reflex- oder Zwangsverhalten ist nämlich für die Verursachung von Schäden im Zustand
der Bewusstlosigkeit in
§ 827 Satz 1 BGB eine gesetzliche Regelung dahin getroffen
worden, dass bei solcher Sachlage (lediglich) die Verantwortlichkeit des Schädigers
ausgeschlossen ist.
Die Fassung des
§ 827 BGB ist in Anlehnung an die damalige Vorschrift des
§ 51 StGB erfolgt, dass eine strafbare Handlung nicht vorhanden sei, wenn der Täter
"zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit"
befand (vgl. Staudinger/Schäfer, BGB 12. Aufl., § 827 Rdn. 2). Die Einbettung der
Bewusstlosigkeit in die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit in
§ 827 BGB stellt eine
gesetzgeberische Wertung dar: Die Bewusstseinslage ist deliktsrechtlich aus dem Begriff
der Handlung ausgeklammert und als Element der Deliktsfähigkeit mit der
Haftungsvoraussetzung des Verschuldens in der Weise verknüpft worden, dass der Schädiger
die Beweislast für den Ausnahmefall einer Bewusstlosigkeit bei der Schadensverursachung
trägt.
Dieser Wertung kann nicht entgegengehalten werden, der Gesetzgeber habe verkannt, dass
es bei "völliger" Bewusstlosigkeit bereits an einer willensgesteuerten Handlung
fehle; die Regelung des
§ 827 BGB könne sich deshalb allein auf graduell
schwächere Formen der Bewusstseinsstörung (Schlaftrunkenheit, Rauschzustände,
Halluzinationen o.ä.) beziehen. Wie sich aus den Motiven (Mot. II S. 731)