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Vermeidbarkeit und Vorhersehbarkeit

Das zweite Element der Pflichtbegründung, das Element der Vermeidbarkeit, enthält ein Kausalitäts- und Steuerungsmoment. Es geht darum, ob demjenigen, der in Anspruch genommen wird, überhaupt ein anderes Verhalten als das an den Tag gelegte möglich gewesen wäre. Wird ein wehrloser Mensch als Wurfgeschoss benutzt, so scheitert seine Verantwortlichkeit schon daran, dass sein Flug von ihm nicht gesteuert und beherrscht werden kann. Die fehlende Steuerungsfähigkeit schließt die Verantwortung aus.

Fraglich kann allein sein, wer bei Zweifeln über das Fehlen der Steuerungsfähigkeit die Beweislast zu tragen hat. Die Beweislastverteilung wird indessen unterschiedlich gesehen, je nachdem, ob es um eine Reflexauslösung oder um die Bewusstlosigkeit geht. Bei der Reflexauslösung liegt die Beweislast für die Steuerungsfähigkeit des Verhaltens (das Fehlen einer Reflexauslösung) beim Geschädigten (vgl. BGHZ 39, 103 zu einem Kegelunfall). Bei der Bewusstlosigkeit hingegen liegt die Beweislast beim Schädiger, wie der BGH in der nachfolgend wiedergegebenen Entscheidung ausgeführt hat:

Gericht: BGH 6. Zivilsenat, Datum: 01.07.1986, Az: VI ZR 294/85

Leitsatz

Ist streitig, ob der aus Delikt in Anspruch genommene Schädiger bei der Verursachung des Schadens bewusstlos war, so trifft ihn die Beweislast für die Bewusstlosigkeit; nicht etwa hat der Geschädigte den Beweis für eine vom Willen beherrschbare Handlung des Schädigers zu führen.

Fundstelle

NJW 1987, 121-122 (LT1)

VersR 1986, 1241-1242 (ST1)

Zum Sachverhalt (vereinfacht):

Die Klägerin befuhr mit ihrem Pkw eine Bundesstraße, als der entgegenkommende, bei der Beklagten haftpflichtversicherte Pkw des Ernst St. auf die Gegenfahrbahn geriet und frontal gegen den Pkw der Klägerin stieß. Die Klägerin wurde schwer verletzt; Ernst St. verstarb auf dem Transport ins Krankenhaus. Die Beklagte hat ihre volle Haftung für den Unfallschaden im Rahmen des Straßenverkehrsgesetzes anerkannt.

Die Klägerin verlangt die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Die Beklagte ist der Ansicht, die gesamten Umstände des Unfallablaufs ließen nur den Schluss zu, dass Ernst St. einen Herzinfarkt erlitten habe und bereits bewusstlos gewesen sei, als sein Fahrzeug aus der Kolonne ausscherte.

Beide Vorinstanzen haben der Klägerin ein Schmerzensgeld von 10.000 DM zuerkannt. Mit der (zugelassenen) Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.

Aus den Gründen:

1. Im Ergebnis mit Recht legt das Berufungsgericht der Beklagten die Beweislast dafür auf, dass ihr Versicherungsnehmer Ernst St. bewusstlos war, als er den Verkehrsunfall und die Verletzung der Klägerin verursacht hat. Dieser Beweislastverteilung steht nicht, wie die Revision meint, der Umstand entgegen, dass die Klägerin als Voraussetzung des von ihr geltend gemachten Anspruchs aus § 823 Abs. 1 BGB eine "willkürliche" Handlung des Ernst St. zu beweisen habe.

a) Richtig ist der Ausgangspunkt der Revision, dass - jedenfalls nach heutigem Verständnis - von einer "Handlung" nur bei einem Verhalten gesprochen werden kann, das der Bewusstseinskontrolle und Willenslenkung unterliegt und somit beherrschbar ist. Allein ein solches "willkürliches" Verhalten kann dem Schädiger zugerechnet werden; "unwillkürliche" Körperbewegungen, die vom menschlichen Bewusstsein nicht kontrolliert werden können, denen also jede Willenssteuerung von vornherein fehlt, vermögen eine Verschuldenshaftung nicht zu begründen (BGHZ 39, 103, 106 ff; BGB-RGRK, 12. Aufl., § 823 Rdn. 72; MünchKomm-Mertens, BGB 2. Aufl., § 823 Rdn. 17; Larenz, Schuldrecht II 12. Aufl., § 71 Ia S. 589 f; Esser/Schmidt, Schuldrecht I 6. Aufl., § 25 III 1 S. 353).

b) Diese Erwägung rechtfertigt es jedoch nicht, dem Geschädigten in allen Fällen, in denen der Schädiger geltend macht, den Schaden nicht durch ein willensabhängiges selbsttätiges Handeln herbeigeführt zu haben, den Beweis für eine willensgesteuerte Handlung aufzuerlegen. Vielmehr ist insoweit zu unterscheiden, aus welchen Gründen es möglicherweise an einem beherrschbaren Verhalten gefehlt hat.

Bringt der Schädiger vor, der Verletzungsvorgang sei unter physischem Zwang erfolgt oder als unwillkürlicher Reflex durch fremde Einwirkung ausgelöst worden, so beruft er sich auf außerhalb seiner Person liegende Umstände, welche die Willenssteuerung seines Verhaltens ausgeschlossen haben sollen. In derartigen Fallgestaltungen, bei denen bereits das äußere Erscheinungsbild eines eigenständigen Handelns des Täters in Frage steht (vgl. Schewe, Reflexbewegung, Handlung, Vorsatz (1972) S. 24 ff, 55, 69), hat allerdings der Geschädigte den Beweis für eine vom Willen getragene Handlung des Schädigers zu führen (BGH = aaO). Anderes gilt jedoch für die Fälle, in denen eine der Willenslenkung unterliegende Handlung des Schädigers aufgrund innerer Vorgänge, nämlich deshalb fraglich erscheint, weil der Täter möglicherweise bei der Schadensverursachung bewusstlos war (a. A. Baumgärtel, Handbuch der Beweislast im Privatrecht, § 823 BGB Rdn. 3 und § 827 BGB Rdn. 3). Im Gegensatz zu der Schadensverursachung durch ein Reflex- oder Zwangsverhalten ist nämlich für die Verursachung von Schäden im Zustand der Bewusstlosigkeit in § 827 Satz 1 BGB eine gesetzliche Regelung dahin getroffen worden, dass bei solcher Sachlage (lediglich) die Verantwortlichkeit des Schädigers ausgeschlossen ist.

Die Fassung des § 827 BGB ist in Anlehnung an die damalige Vorschrift des § 51 StGB erfolgt, dass eine strafbare Handlung nicht vorhanden sei, wenn der Täter "zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit" befand (vgl. Staudinger/Schäfer, BGB 12. Aufl., § 827 Rdn. 2). Die Einbettung der Bewusstlosigkeit in die Fälle der Zurechnungsunfähigkeit in § 827 BGB stellt eine gesetzgeberische Wertung dar: Die Bewusstseinslage ist deliktsrechtlich aus dem Begriff der Handlung ausgeklammert und als Element der Deliktsfähigkeit mit der Haftungsvoraussetzung des Verschuldens in der Weise verknüpft worden, dass der Schädiger die Beweislast für den Ausnahmefall einer Bewusstlosigkeit bei der Schadensverursachung trägt.

Dieser Wertung kann nicht entgegengehalten werden, der Gesetzgeber habe verkannt, dass es bei "völliger" Bewusstlosigkeit bereits an einer willensgesteuerten Handlung fehle; die Regelung des § 827 BGB könne sich deshalb allein auf graduell schwächere Formen der Bewusstseinsstörung (Schlaftrunkenheit, Rauschzustände, Halluzinationen o.ä.) beziehen. Wie sich aus den Motiven (Mot. II S. 731)

"Unwillkürliche Handlungen kommen als juristische Handlungen überhaupt nicht in Betracht, können nicht zugerechnet werden. Eine Anwendung dieses Grundsatzes enthält die Vorschrift des § 708 (jetzt: § 827 BGB), dass eine Person, welche, während sie des Vernunftgebrauches beraubt war, einem anderen einen Schaden zugefügt hat, hierfür nicht verantwortlich ist"

ergibt, hat der Gesetzgeber dieses Problem bei seiner Wertung in § 827 BGB durchaus gesehen.

An dem Normgehalt des § 827 BGB ist trotz der Änderungen festgehalten worden, die im Strafrecht die Ausgangsvorschrift des § 51 StGB im Laufe der Jahre erfahren hat. Dort ist die "Bewusstlosigkeit" zunächst durch den Begriff der "Bewusstseinsstörung" und in der jetzigen Fassung des § 20 StGB sodann durch die "tief greifende Bewusstseinsstörung" ersetzt worden (vgl. im einzelnen Staudinger/Schäfer = aaO). Damit ist der Erwägung Rechnung getragen worden, dass es bei völligem Mangel des Bewusstseins im strafrechtlichen Sinne bereits an einer Handlung fehlt (vgl. RGSt 64, 349, 353). Dem hat der Zivilgesetzgeber die Vorschrift des § 827 BGB jedoch nicht angepasst. Eine solche Angleichung kann nicht an seiner Stelle durch den Richter vorgenommen werden, zumal angesichts der Wesensverschiedenheit von Strafe und zivilrechtlicher Ersatzpflicht sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung sprechen (vgl. Staudinger/Schäfer = aaO Rdn. 3). Insbesondere für die hier entscheidende Frage der Beweislast, die sich im Strafprozess völlig anders darstellt, muss es deshalb für die Haftung aus unerlaubter Handlung nach § 827 Satz 1 BGB dabei verbleiben, dass der Beweis für einen Zustand der Bewusstlosigkeit bei der Schadensverursachung vom Schädiger zu führen ist. Solange im Streitfall die Beklagte den Beweis für eine Bewusstlosigkeit ihres Versicherungsnehmers nicht erbringt, ist deshalb von einer zurechenbaren Handlung des Ernst St. auszugehen, die nach Maßgabe der in der Rechtsprechung dazu entwickelten Kriterien als Grundlage eines Anscheinsbeweises für einen Fahrfehler in Betracht kommt (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 19. November 1985 - VI ZR 176/84 - VersR 1986, 343, 344 m.w.N.).

Das dritte Element der Pflichtbegründung liegt in der Vorhersehbarkeit. Hier geht es zum einen darum, ob die Gefahrenlage überhaupt erkannt werden konnte und wie hoch man die Wahrscheinlichkeit der Gefahrrealisierung, des Schadenseintritts, zu veranschlagen hatte.

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© Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann. 
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