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Zumutbarkeit

Steht die Garantenstellung des Inanspruchgenommenen, sowie die Tatsache, dass er das gebotene Alternativverhalten physisch hätte an den Tag legen können, fest, so bleibt als letztes Element der Pflichtwidrigkeit die Zumutbarkeit.

Das Verständnis des nun folgenden Abschnitts ist sehr wichtig für die Fähigkeit, in Klausuren und später auch im Beruf eigenständig Lösungen für fragliche Haftungsfälle entwickeln zu können.

Lesen Sie deshalb bitte zur Vorbereitung oder zur Ergänzung dieses Abschnittes folgende Texte:

Burow, Einführung in die ökonomische Analyse des Rechts, JuS 1993, 8 ff.

Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 10. Aufl. 2006, Rdnrn. 56 bis 92

Zweck des Deliktsrechts ist es, die einzelnen Individuen einer Gesellschaft zu einem Verhalten zu veranlassen, das möglichst Schäden vermeiden soll. Das ist die Steuerungsfunktion des Haftungsrechts. Durch Haftpflichtanreize soll das Verhalten potenzieller Schädiger so gesteuert werden, dass diese Maßnahmen zur Schadensabwehr betreiben (eben sich besonders sorgfältig zu verhalten). Dies soll jedoch nicht etwa dazu führen, dem Schädiger Pflichten aufzuerlegen, deren Ziel es ist, möglichst jegliche Schadensfälle zu verhindern. Dann nämlich müsste der potenzielle Schädiger möglicherweise Kosten aufwenden, die höher sind als die Kosten, die im Schadensfalle entstehen. Außerdem könnte es sein, dass der Geschädigte durch kostengünstigere Maßnahmen ebenfalls zur Schadensvermeidung hätte beitragen können.

Die Zumutbarkeitsfrage läuft also auf einen Kostenvergleich hinaus, der von dem amerikanischen Richter Learned Hand formuliert worden ist. Danach besteht eine Pflicht zur Schadensabwehr (SA) dann, wenn die Kosten der Schadensabwehr geringer sind als der Schadenserwartungswert. Der Schadenserwartungswert wird durch die Höhe des Schadens (S) und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts p(S) bestimmt. Auf eine knappe Formel gebracht sieht die Sache so aus:

Pflicht(SA), wenn Kosten(SA) S * p(S)

Das gilt aber nur dann, wenn nicht der Geschädigte durch Maßnahmen, deren Kosten noch geringer sind, als diejenigen der Schadensabwehr des Schädigers, den Schaden ebenfalls hätte abwehren können. Anders gesprochen: Das Risiko, die Kosten für einen Schaden übernehmen zu müssen, trägt stets der "cheapest cost avoider".

Greifen wir hierzu das Beispiel aus BGH NJW 1989, 2808 auf:

Ein Kraftfahrer war mit Rehwild kollidiert. Er verlangte vom Träger der Straßenverkehrssicherungspflicht Schadensersatz mit der Begründung, die zuständige Behörde hätte nicht nur ein Warnschild anbringen, sondern auch einen Wildschutzzaun aufstellen müssen, weil es an dieser Stelle besonders häufig (50 mal pro Jahr) zu Wildunfällen käme.

Angenommen, die Kosten für einen Zaun beziffern sich, einschließlich Zinsverlust gerechnet auf die Lebensdauer des Zaunes, auf 60.000 DM pro Jahr. Verglichen mit den Kosten für die Unfälle, die, bei einem durchschnittlichen Schaden von 2.000 DM pro Unfall, 100.000 DM pro Jahr betragen, ist dies weniger. Dennoch genügte die Aufstellung eines Schildes, denn nun waren die Autofahrer gewarnt und wurden dadurch zum "cheapest avoider", denn sie konnten nunmehr durch (fast) kostenloses langsames Fahren zumindest einen Großteil der Unfälle verhindern.

Im Urteil des BGH, der sich solch moderne Überlegungen natürlich noch nicht zu Eigen gemacht hat, liest sich das dann so:

b) Bei der Bestimmung des Umfangs der Verkehrssicherungspflicht gegenüber Gefahren, die dem Verkehr auf der Straße von Wild drohen, gilt es zu bedenken:

Wild ist herrenlos und eine natürliche Erscheinung. Im Grunde kann Wild an jeder ländlichen Straße, insbesondere im Wald, auf die Straße treten und den Verkehr gefährden. Es ist nicht Aufgabe des Verkehrssicherungspflichtigen, sämtliche Strecken, auf denen Wildwechsel möglich sind, durch Zäune zu sichern. Der Verkehrsteilnehmer kann und muss sich auf solche Gefahren einstellen. Ist Wildwechsel in Betracht zu ziehen, wird ein sorgfältiger Kraftfahrer zum Beispiel die Geschwindigkeit mäßigen, den Fahrbahnrand verstärkt beobachten, seine Reaktionsbereitschaft erhöhen oder auf andere Weise sein Fahrverhalten der jeweiligen Gefahrenlage anpassen. Allerdings muss der Verkehrssicherungspflichtige vor besonderen Gefahrstellen (z.B. Wildwechsel, Gegenden mit hoher Wilddichte oder Häufung von Wildunfällen) durch das Gefahrzeichen "Wildwechsel" (§ 40 Abs. 6, Zeichen 142 StVO) warnen, damit der Verkehrsteilnehmer die Straßenverhältnisse richtig einschätzen kann. Sind die besonderen Gefahrstellen durch Warnschilder sachgerecht angezeigt, ist der Verkehrssicherungspflicht Genüge getan. Wildschutzzäune sind grundsätzlich nicht vonnöten.

Doch auch wenn die Pflicht zur Schadensabwehr sich nach diesen Kriterien nicht ergibt, bleibt noch eine weitere Begründungsmöglichkeit. Wenn es sich um unvermeidbare Schäden handelt, oder die Vermeidungskosten nach der obigen Formel höher sind, als der drohende Verlust, so ist nach dem "cheapest insurer" zu fragen. Das ist derjenige, der den Schaden am günstigsten hätte versichern können.

Gerade Letzteres ist jedoch keineswegs in Literatur und Rechtsprechung, außer von den Vertretern der ökonomischen Analyse des Rechts, anerkannt. Wie schon der obige Entscheidungsauszug zeigt, wird in der Rechtsprechung zwar auch mit Zumutbarkeitserwägungen hantiert, doch zur strengen Durchführung des Kostenvergleichs als grundsätzliche Vorgehensweise bei der Feststellung des Maßes der "im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" konnte sie sich bisher noch nicht durchringen.

Wer den Überlegungen bis hierher ein gewisses Verständnis entgegen gebracht hat, sollte sich allerdings auch klar darüber werden, dass das Argumentationspotenzial der ökonomischen Analyse des Rechts nicht einfach zu handhaben ist. Nach Abfassung der vorstehenden Überlegungen ist mir die Analyse des BGH-Urteils aus für die ökonomische Analyse berufener Feder von Kötz und Schäfer zu Augen gekommen, die ich dem Leser nicht vorenthalten möchte:

Das Urteil überzeugt nicht. Es verkennt, dass das Haftungsrecht die Aufgabe hat, durch Setzung entsprechender Anreize das Verhalten der Bürger dahin zu beeinflussen, dass sie alle Schadensereignisse zu verhüten bestrebt sind, die zu verhüten deshalb sinnvoll ist, weil die Verhütungskosten einen geringeren Aufwand verursachen als er durch die andernfalls eintretenden Schäden entstünde. Dass sich die geltenden Regeln des Haftungsrechts - insbesondere die richterliche Konkretisierung des Begriffs der "Fahrlässigkeit" - über weite Strecken hinweg in der Tat an dem genannten Steuerungsziel orientieren, ist im Schrifttum schon oft dargestellt worden (vgl. dazu im einzelnen Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (1986) S. 115 ff.; Adams, Ökonomische Analyse der Gefährdungs- und Verschuldenshaftung (1985) S. 120 ff.; Kötz, Ziele des Haftungsrechts: FS für Ernst Steindorff (1990) 643 ff.; ders., Deliktsrecht, 5. Aufl. (1991), Rn. 36 ff., 119 ff.). Richtig ist zwar, dass die Nutzen-Kosten-Abwägung, auf die es danach ankommt, nur selten offen angestellt wird (vgl. immerhin BGH NJW 1984, 801), vielmehr in der Regel auf richterlicher Intuition beruht, freilich deshalb nicht weniger wirksam ist. Dies hängt damit zusammen, dass genaues Zahlenwerk, auf das sich eine Aufrechnung der Nutzen gegen die Kosten stützen ließe, oft fehlt oder nur mit erheblicher Mühe oder großem Zeitaufwand zu erlangen ist. Im vorliegenden Fall waren aber die erforderlichen Tatsachen zum Teil vom Kläger ausdrücklich behauptet, zum Teil mit Leichtigkeit zu ermitteln. Zu bedauern ist nicht nur, dass der BGH diesen Umstand verkannt hat, sondern vor allem, dass er, weil er ihn verkannt hat, zu einem falschen Ergebnis gekommen ist.

Das Urteil wäre sicherlich richtig, wenn es zuträfe, dass Kollisionen zwischen Kraftfahrern und Wild sich schon durch die Aufstellung eines vor Wildwechsel warnenden Verkehrsschildes verhüten lassen. Denn die Kosten eines solchen Schildes fallen, ohne dass man viel zu rechnen bräuchte, überhaupt nicht ins Gewicht gegenüber den Unfallschäden, deren Eintritt das Schild verhindert. In Wahrheit verhütet ein solches Verkehrsschild Wildunfälle aber nicht. Täte es das, so wäre nicht zu erklären, wieso es trotz des Schildes auf der Kreisstraße, um die es hier geht, alljährlich zu 50 bis 60 Wildunfällen kommt. Jeder weiß, dass ein solches Verkehrsschild zwar den einen oder anderen Kraftfahrer für eine gewisse Zeit zu verschärfter Beobachtung des Fahrbahnrandes oder zu einer Verringerung seines Tempos veranlassen mag. Aber die Erfahrung und die hier vom Kläger behaupteten Unfallzahlen lehren, dass der Verhütungseffekt solcher Schilder jedenfalls dort gering einzuschätzen ist, wo das durch Wildwechsel gefährdete Straßenstück - wie im vorliegenden Fall - viele Kilometer lang ist.

Aus dem Umstand, dass ein Verkehrsschild wirkungslos ist, folgt noch nicht, dass ein Zaun anzubringen war. Zwar verhütet der Zaun mit Sicherheit alle Wildunfälle. Seine Anbringung wäre aber gleichwohl nur dann geboten und seine Nichtanbringung daher nur dann fahrlässig i.S. des § 823 Abs. 1 BGB, wenn die im Lande Hessen dadurch entstehenden Kosten niedriger liegen als die Schäden, die der Zaun zu verhüten geeignet ist.

Nimmt man an, dass die Gefahrstrecke 6 km lang, also 12 km Zaun erforderlich sind, so belaufen sich die Kosten für seine Errichtung auf 300.000,- DM, da nach der von uns eingeholten Auskunft einer Fachfirma die Lieferung und Installierung eines 2 m hohen Maschendrahtzauns einschließlich der Haltepfähle 25,- DM/m kostet. Die Zinserträge, die dem Lande Hessen zuflössen, wenn es den Betrag von 300.000,- DM zu 8,5% p.a. auf dem Kapitalmarkt anlegte, belaufen sich auf jährlich 25.000,- DM, zum gleichen Betrag kommt man, wenn man annimmt, dass das Land sich den Betrag auf dem Kapitalmarkt zu diesem Zinsfuß beschaffen muss. Der Abschreibungsaufwand beläuft sich, wenn man eine 10-jährige Lebensdauer des Zauns unterstellt, auf 30.000,- DM/Jahr. Wenn man weiterhin für die zweimalige Wartung und Reparatur des Zauns jeweils im Frühjahr und Herbst 4.000,- DM/Jahr veranschlagt, so beläuft sich der dem Lande Hessen durch die Lieferung, Errichtung und Unterhaltung des Zauns entstehende Gesamtaufwand auf jährlich 59,500,- DM.

Auf Anfrage hat uns die Allianz-Versicherung (Direktion Hamburg) aus ihrer zentralen Unfalldatei mitgeteilt, dass die von ihr 1991 regulierten Wildunfälle zu Schadenaufwendungen für Sachschäden in Höhe von durchschnittlich 2.005,- DM/Unfall geführt haben. Das bedeutet, dass die vom Kläger behaupteten Wildunfälle allein zu Sachschäden in Höhe von 100.000 bis 120.000,- DM/Jahr führen; dabei ist der Schaden noch nicht eingerechnet, der der Forstverwaltung durch die Tötung oder Verletzung des Wildes entsteht. Was die durch Wildunfälle verursachen Personenschäden anlangt, so waren leider entsprechende Angaben über den durchschnittlichen Schadensaufwand nicht erhältlich. Vor allem war im vorliegenden Fall den Behauptungen des Klägers nicht zu entnehmen, wieviele von den jährlichen 50 bis 60 Wildunfällen nur zu Sachschäden und wieviele von ihnen auch zu Personenschäden geführt haben. Freilich wäre das durch Rückfrage bei den für die Verkehrsunfallstatistik zuständigen Landesbehörden wohl unschwer zu erfahren gewesen. Wir haben stattdessen das Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland herangezogen (vgl. zu den folgenden Angaben Statistisches Jahrbuch 1987 für die Bundesrepublik Deutschland, Tab. 13,31 S. 315). Es weist aus, dass im Jahre 1985 sich die Zahl der polizeilich erfassten Straßenverkehrsunfälle mit Personenschäden (327.745) zur Zahl der insgesamt erfassten Straßenverkehrsunfälle (1,841 Mio.) wie 1:5,6 verhält und danach von den hier in Rede stehenden 50 bis 60 Wildunfällen vermutlich rund 10 auch zu Personenschäden geführt haben. Wie schwer diese Schäden waren und mit welchem Betrag sie zu veranschlagen sind, ist zweifelhaft. Fest steht immerhin, dass die Schadensaufwendungen, die die deutschen Kft-Haftpflichtversicherer 1985 zur Regulierung von Personenschäden aus Verkehrsunfällen leisteten, sich auf rund 3,064 Mrd. DM belaufen haben, also auf jeden der 327.745 Verkehrsunfälle mit Personenschäden rund 9.300,- DM entfallen sind. In Wahrheit dürfte dieser Betrag wesentlich höher liegen, weil es unter den polizeilich erfassten Verkehrsunfällen mit Personenschäden viele gibt, für die niemand haftet und daher auch kein Haftpflichtversicherer eintritt. Selbst wenn man die oben genannte Zahl von 9.300,- DM zugrunde legt, kommt man auf Schäden von weiteren 93.000,- DM/Jahr; dabei bleibt noch ganz unbeachtet, dass gute Gründe dafür sprechen, dass in der Haftpflichtpraxis die Schäden, die durch die Körperverletzung und Tötung von Menschen entstehen, viel zu niedrig bewertet werden (vgl. dazu Ott/Schäfer, Schmerzensgeld bei Körperverletzungen, Eine ökonomische Analyse: JZ 1990, 563). Wie man es auch dreht und wendet, es kann kein Zweifel daran bestehen, dass mit dem für die Errichtung und Unterhaltung des Zauns erforderlichen Betrag von jährlich knapp 60.000,- DM sich Sach- und Personenschäden von mindestens dreifacher Höhe mit Sicherheit hätten vermeiden lassen. Dass fahrlässig handelt, wer eine derart dringlich gebotene Maßnahme der Schadensabwehr unterlässt, kann ernsthaft wohl nicht bezweifelt werden.

Die Geschichte ist freilich noch nicht zu Ende. Wer heute die fragliche Kreisstraße in der Gemarkung Mörfelden-Walldorf befährt, wird zu seiner Überraschung feststellen, dass sich auf einer Strecke von 6 km auf beiden Straßenseiten ein funkelnagelneuer Wildschutzzaun befindet. Wie ist das zu erklären? Hatte nicht der BGH dem Lande Hessen mit seinem Urteil bescheinigt, dass es auch weiterhin in Untätigkeit verharren und dabei noch ein gutes Gewissen haben dürfe? Konnte das Land nicht mit Gleichmut zusehen, wie es Jahr für Jahr zu 50 bis 60 Verkehrsunfällen in der Gemarkung Mörfelden-Walldorf kommt, und wäre es nicht klug vom Lande gewesen, allen Unfallbeteiligten vor Ort solang Kopien der BGH-Entscheidung auszuhändigen, damit allfälligem Anspruchsdenken sogleich ein höchstrichterlicher Stoß versetzt werde? Das Land Hessen ist diesen Weg jedoch nicht gegangen; es hat den Zaun gebaut. Den Anstoß dazu hat aber nicht die Einsicht gegeben, dass die BGH-Entscheidung falsch sei. Den ersten Anstoß gab vielmehr der Umstand, dass die örtliche Forstverwaltung es leid geworden war, mit anzusehen, wie Jahr für Jahr ihr Wildbestand erheblich dezimiert wurde. Sie ist es daher gewesen, die beim Lande mit Nachdruck auf den Bau des Zaunes gedrungen, dabei natürlich auch auf die Schäden der Verkehrsteilnehmer hingewiesen und sich mit ihrer Forderung schließlich durchgesetzt hat (Angaben der örtlichen Polizeidienststelle und der zuständigen Forstverwaltung). Dass Tierschutzerwägungen den Anstoß zur Errichtung des Zauns gegeben haben, mag für die Tierschützer einen Grund zur Freude bilden; was den BGH anlangt, so wäre eher Nachdenklichkeit am Platze.

Wenn nach den vorstehenden Überlegungen eine Pflicht zu einem alternativen Verhalten begründet worden ist, bleiben noch zwei Problemkomplexe zu bewältigen. Zum einen muss die Kausalität der Pflichtwidrigkeit festgestellt werden, zum anderen ist fraglich, ob jeder durch die Pflichtwidrigkeit verursachte Schaden dem Schädiger auch zuzurechnen ist.

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© Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann. 
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