Gericht: BGH 6. Zivilsenat, Datum: 17.10.1989, Az: VI ZR 258/88
Leitsatz
1. Konstruktive Maßnahmen zur Beseitigung von Produktgefahren müssen dann nicht
getroffen werden, wenn die Benutzer dies im Bewußtsein der bestehenden konkreten Gefahr
nicht für erforderlich erachten.
2. Aufgrund der Produktbeobachtungspflicht ist ein Warenhersteller auch gehalten, die
Produktentwicklung der wichtigsten Mitbewerber zu beobachten.
Fundstelle
VersR 1989, 1307-1308 (ST)
NJW 1990, 906-908 (LT)
JuS 1990, 413 (S)
ZIP 1990, 516-518 (LT)
Tatbestand
Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadensersatz wegen der Verletzung eines
Pferdes.
Der Kläger war Eigentümer eines Hannoveraner Fuchswallachs, der als
Turnierspringpferd verwendet wurde. Er hatte dieses Pferd seit dem Jahre 1984 auf dem Hof
des Landwirts E. in V. untergebracht. Die beklagte Gesellschaft ist Herstellerin von
Pferdeboxen. In dem Pferdestall des Landwirts E. befanden sich Boxen, welche im Betrieb
der Beklagten hergestellt und von deren Arbeitnehmern montiert worden waren. Die
Trennwände dieser Boxen sind insgesamt 2,2 m hoch. Bis zur Höhe von 1,5 m bestehen sie
aus massivem Bongossi-Holz, im oberen Bereich sind sie als Sprossenwand hergestellt mit
massiven feuerverzinkten Rohren von 2,2 cm Durchmesser. Als oberen Abschluß der
Trennwände hat die Beklagte ein nach oben offenes feuerverzinktes U-Eisen verwendet. Der
Kläger behauptet, sein Pferd habe sich am 2. Januar 1985 dadurch verletzt, daß es beim
Aufstellen auf die Hinterhand mit dem linken Vorderhuf an dem oberen Rand des U-Eisens der
Box hängengeblieben sei. Dabei seien Verletzungen an der Sehne der vorderen linken
Fesselbeuge unter Eröffnung der gemeinsamen Sehnenscheide eingetreten. Bei dem Verkauf
des Pferdes habe er deshalb eine Preiseinbuße von 55.000 DM erlitten. Außerdem seien ihm
Behandlungskosten in Höhe von 2.251,16 DM entstanden. Während der verletzungsbedingten
Gebrauchsunfähigkeit des Pferdes habe er noch 3.150 DM Unterbringungskosten aufbringen
müssen.
Das Landgericht hat die auf Zahlung von 60.401,16 DM nebst Zinsen gerichtete Klage
abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit der Revision verfolgt er
seine Klageansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht stellt aufgrund der Bekundungen des Landwirts E. und des
Tierarztes C. - und von der Revision nicht beanstandet - fest, daß sich das Pferd des
Klägers in der behaupteten Weise beim Aufbäumen an der Kante des nach oben offenen
U-Profils des oberen Abschlusses der Boxentrennwand verletzt hat. Aufgrund dieses
Unfallablaufes sind jedoch nach Auffassung des Berufungsgerichts keine
Schadensersatzansprüche des Klägers gegen die Beklagte entstanden. Das Berufungsgericht
geht davon aus, daß der Hersteller in Bezug auf sein Produkt Sicherungsmaßnahmen
konstruktiver Art nur dann zu treffen hat, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit
besteht, daß Rechtsgüter anderer durch sein Produkt verletzt werden, sondern wenn dies
naheliegt. Die von der Beklagten hergestellte und montierte Boxentrennwand habe aber nicht
zu einer naheliegenden Gefährdung von Rechtsgütern Dritter geführt. Nach
sachverständiger Beratung ist das Berufungsgericht zu der Überzeugung gelangt, es handle
sich hierbei um eine letztlich theoretische Gefahrenquelle, die sich lediglich in seltenen
Ausnahmefällen auswirke. In den Kreisen von Herstellern und Abnehmern derartiger Boxen
werde diese Gefahrenquelle (noch) toleriert, so daß nach der Verkehrserwartung Maßnahmen
zur Beseitigung dieser Gefahrenquelle nicht als objektiv erforderlich anzusehen seien.
II. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Rechtlich einwandfrei geht das Berufungsgericht, wie auch die Revision nicht
verkennt, allerdings davon aus, daß jeder Verkehrssicherungspflichtige
Sicherungsmaßnahmen nur zu treffen hat, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit
besteht, daß Rechtsgüter anderer verletzt werden, sondern wenn dies naheliegt, und daß
bei der Frage nach der Notwendigkeit von Sicherungsmaßnahmen auch auf die
Verkehrserwartung abzustellen ist (vgl. z.B. Senatsurteil vom 15.4.1975 - VI ZR 19/74 -
VersR 1975, 812; zur Verkehrserwartung vgl. auch Senatsurteile vom 16.2.1972 - VI ZR
111/70 - Förderkorb - VersR 1972, 559, 560 (zur Konstruktionspflicht) und (zur
Instruktionspflicht) vom 7.10.1986 - VI ZR 187/85 - Verzinkungsspray - VersR 1987, 102,
103 m.w.N.).
Gefahren, die typischerweise mit der Benutzung eines Produkts verbunden sind, von den
Benutzern erkannt und grundsätzlich "in Kauf genommen" werden, braucht der
Verkehrssicherungspflichtige nicht abzuwenden (vgl. Senatsurteil vom 30.11.1976 - VI ZR
3/76 - Autoscooter - VersR 1977, 334, 335).
2. Die Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den Streitfall ist jedoch von
Rechtsfehlern beeinflußt.
a) Bedenken bestehen schon gegen die Annahme des Berufungsgerichts, die von der
Beklagten hergestellte und montierte Trennwand habe nicht zu einer naheliegenden
Gefährdung von Rechtsgütern Dritter geführt. Das Berufungsgericht folgt dem
Sachverständigen Dr. K., wonach das Aufbäumen eines Pferdes in der Box nicht atypisch,
sondern - insbesondere bei geschlossenen Beständen ohne häufigen Pferdewechsel - nur
ausgesprochen selten sei. Es geht auch, worauf die Revision mit Recht hinweist, an anderer
Stelle des Berufungsurteils selbst davon aus, daß es sich bei den nach oben offenen
UProfilen, die nach dem unbestrittenen Klagevorbringen überdies noch scharfkantig waren,
um eine Gefahrenquelle handelte. Typischen Gefahrensituationen muß aber, auch wenn sie
selten eintreten, vom Verkehrssicherungspflichtigen begegnet werden, jedenfalls wenn sie
zu nicht unerheblichen Schäden führen können (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 7. Juni
1988 - VI ZR 91/87 - Limonadenflasche, BGHZ 104, 323, 326ff). Es handelt sich bei ihnen
nicht um eine Gefahr, die als nur theoretisch vernachlässigt werden darf.
b) Eine Haftung der Beklagten konnte damit allenfalls dann entfallen, wenn, wie das
Berufungsgericht weiter meint, nach der Verkehrserwartung gleichwohl Maßnahmen zur
Beseitigung dieser Gefahrenquelle nicht erforderlich waren. Denn alle
Verkehrssicherungspflichten sind, wie bereits ausgeführt, grundsätzlich unter
Berücksichtigung der Verkehrsauffassung zu bemessen (Senatsurteil vom 9. Juli 1985 - VI
ZR 71/84 - VersR 1985, 1093, 1094 m.w.N.). Aufgrund der getroffenen Feststellungen durfte
das Berufungsgericht jedoch nicht davon ausgehen, nach der Verkehrserwartung sei eine
andere Konstruktion, insbesondere auch der Verzicht auf scharfe Profilkanten, nicht
erforderlich gewesen.
aa) Eine solche Annahme wäre nur dann gerechtfertigt gewesen, wenn das
Berufungsgericht hätte feststellen können, daß die Benutzer solcher Stalltrennwände
dies allgemein und im Bewußtsein der zwar seltenen aber konkreten Gefahren für die dort
eingestellten Pferde nicht für erforderlich erachteten. Solche Feststellungen trifft es
jedoch nicht, sondern meint nur, "in den Kreisen von Herstellern und Abnehmern werde
diese Gefahrenquelle (noch) toleriert". Dies wiederum leitet es daraus ab, daß nach
seiner Rechnung 27,8% der Hersteller (nach Rechnung der Revisionserwiderung 37,5%)
ebenfalls Trennwände mit nach oben offenem Profil herstellen, daß der Markt dies
hinnehme und daß in der einschlägigen Literatur und in Fachzeitschriften über diese
Gefahrenquelle nicht diskutiert worden sei.
Für die Verkehrserwartung hinsichtlich der Gestaltung der Boxentrennwände kommt es
nicht darauf an, ob und gegebenenfalls wieviele Hersteller irgendwelche damit verbundenen
Gefahren für ihre Abnehmer tolerieren. Maßgeblich ist vielmehr der Erwartungshorizont
der gefährdeten Benutzerkreise (vgl. Foerste in Produkthaftungshandbuch, § 23 Rn.
13, § 24 Rn. 3), und auch diese Erwartung wird nicht dadurch festgelegt, was die
Benutzer mangels einer besseren Alternative noch hinzunehmen bereit sind, sondern dadurch,
was sie zum Schutz ihrer Tiere vor Verletzungen für erforderlich erachten. Es kommt
deshalb ausschließlich darauf an, was ein durchschnittlicher Benutzer objektiv an
Sicherheit bei diesen Wänden erwartet bzw. erwarten kann (vgl. Kullmann in
Kullmann/Pfister, Produzentenhaftung, Kennzahl 1520 unter F I 2 b; zur Beschaffenheit von
Bahnsteigen vgl. auch Senatsurteil vom 20. Januar 1981 - VI ZR 205/79 - VersR 1981, 482),
also, wie das Berufungsgericht an anderer Stelle des Berufungsurteiles selbst sagt,
darauf, welche Anforderungen vernünftigerweise von den Produktbenutzern gestellt werden.
Diese Frage läßt sich auch nicht, wie das Berufungsgericht anscheinend meint, danach
beantworten, wie groß die Zahl bzw. der Prozentsatz der Hersteller ist, die Trennwände
mit nach oben offenem Profil anbieten. Das Angebot der Hersteller ergibt entgegen der
Ansicht des Berufungsgerichts noch keinen Hinweis darauf, daß der Markt derartige
Konstruktionen hinnimmt, geschweige denn, daß die Benutzer sie auch dann noch
"tolerieren", wenn ihnen die Gefahr bewußt ist und sie auf sicherere
Konstruktionen ausweichen können. Rückschlüsse auf die Verkehrserwartung lassen sich
allenfalls - und auch das nur bedingt - daraus ziehen, welche Art von Trennwänden
hauptsächlich verkauft wird.
bb) Die Verkehrserwartung kann allerdings auch abhängig sein von der vom
Berufungsgericht erwähnten Preisgestaltung. Denn auch der Preis eines Produktes kann die
Sicherheitserwartungen beeinflussen. Jedenfalls erwartet der durchschnittliche Benutzer
von einem teureren Produkt derselben Produktart im allgemeinen mehr Sicherheit als von
einer vergleichsweise billigeren Ausführung. Denn erhöhte Sicherheit hat ihren Preis
(vgl. Taschner, (EGRichtlinie) Produkthaftung, 1986, Art. 6 Rn. 22). Das Berufungsgericht
hat jedoch nicht festgestellt, daß die auf dem Markt befindlichen Stallboxen mit
gefahrloser Oberseite der Trennwände teurer waren als diejenigen der Beklagten. Der
Sachverständige spricht nur von einer kostengünstigeren Produktion bei dem von der
Beklagten gewählten Verfahren. Die Produktionskosten sind allenfalls ein Umstand, der bei
der Frage der Zumutbarkeit einer teuereren Produktion von Bedeutung sein kann. Die
Beklagte hat jedoch im Streitfalle nicht geltend gemacht, daß ihr eine andere
Konstruktion wirtschaftlich nicht zumutbar war.
cc) Die Revision rügt in diesem Zusammenhang zusätzlich mit Erfolg, daß das
Berufungsgericht Ausführungen des Sachverständigen unbeachtet gelassen hat, die
ebenfalls für die Frage der Verkehrserwartung von Bedeutung sind, nämlich den Hinweis
des Sachverständigen darauf, daß Hersteller von Pferdeboxen mit langer Erfahrung
eindeutig geschlossene obere Abschlüsse vorziehen, obwohl sie früher ebenfalls die
Konstruktion der Beklagten verwendet haben. Das spricht dafür, daß diese Konstruktion
von den einschlägigen Fachkreisen nicht mehr für akzeptabel gehalten wird.
III. Da die vom Berufungsgericht für die Klageabweisung gegebene Begründung seine
Entscheidung nicht trägt, muß das Berufungsurteil aufgehoben werden. Im Hinblick darauf,
daß alle wesentlichen tatsächlichen Umstände entweder unstreitig oder vom
Berufungsgericht bereits festgestellt sind und auch keine Anhaltspunkte dafür bestehen,
daß noch weitere Feststellungen getroffen werden können, welche die Beklagte entlasten
können, ist der erkennende Senat zu einer abschließenden Entscheidung über den Grund
des geltend gemachten Anspruches in der Lage (§ 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Die
Entscheidung muß dahin ergehen, daß in Abänderung des landgerichtlichen Urteils die
Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt wird.
1. Die Beklagte war als Herstellerin von Boxentrennwänden für Pferdeställe
verpflichtet, in den Grenzen des technisch Möglichen und ihr wirtschaftlich Zumutbaren
dafür zu sorgen, daß die in den Boxen gehaltenen Pferde bei ihrem typischen
Tierverhalten keine Verletzungen erleiden (vgl. Senatsurteil BGHZ 104, 323, 326). Hierzu
gehörte auch die Vorsorge, daß sich die Pferde bei dem zwar seltenen, aber doch
typischen Aufbäumen nicht infolge scharfer Kanten einzelner Stäbe an den Sehnen
verletzen konnten. Eine Veränderung der Konstruktion ihrer Trennwände dahingehend, daß
das nach oben offene scharfkantige U-Eisen des oberen Trennwandabschlusses mit einem
Kantholz ausgefüllt, umgedreht oder durch eine andere Abschlußkonstruktion ersetzt
wurde, war, wie auch das Berufungsgericht unterstellt, technisch einfach möglich und -
wie bereits ausgeführt - der Beklagten offensichtlich auch wirtschaftlich nicht
unzumutbar.
Die Beklagte konnte, wie ebenfalls bereits dargelegt ist, auch nicht davon ausgehen,
daß die Pferdehalter bewußt diese Gefahren in Kauf nehmen werden.
2. Die Beklagte hat auch fahrlässig ihre Sorgfaltspflichten im Konstruktionsbereich
verletzt.
Sie kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, daß sie eine Konstruktion gewählt
hatte, die auch noch von anderen Herstellern angeboten wurde, und daß sie damit die
"übliche" Sorgfalt angewendet hatte. Dem Fahrlässigkeitsvorwurf kann sie sich
nur entziehen, wenn sie die im Verkehr "erforderliche" Sorgfalt angewendet
hätte (BGHZ 8, 138, 140; BGH, Urteil vom 17. Mai 1972 - VIII ZR 98/71 - VersR 1972, 953,
954). Erforderlich war es aber im Streitfalle, die konstruktionsbedingt aufgetretenen
Gefahrenmomente zu beseitigen. Den für die Konstruktion verantwortlichen
verfassungsmäßig berufenen Vertretern der Beklagten hätte auch bewußt sein müssen,
daß eine solche konstruktive Änderung des oberen Abschlusses der Boxentrennwände
erforderlich war. Dies ergab sich für sie schon daraus, daß, wie unter II 2a ausgeführt
wurde, die Möglichkeit, daß sich Pferde daran verletzten, keine nur theoretisch
bestehende Gefahr darstellte und daher von ihnen in Betracht zu ziehen war.
Im übrigen kann sich die Beklagte nicht mit Erfolg darauf berufen, daß nach ihrer
Kenntnis bis zur Montage der Boxen im Stall des Landwirts E. sich diese Gefahr noch nie
verwirklicht hatte. Aufgrund ihrer Produktbeobachtungspflicht (vgl. BGHZ 80, 199, 202) war
die Beklagte nicht nur gehalten, die Bewährung ihrer Produkte in der Praxis zu beobachten
und - wie das Berufungsgericht meint - zu prüfen, ob etwa in Fachzeitschriften bzw.
sonstiger Literatur oder in Züchterkreisen über diese Gefahr diskutiert wurde. Sie hatte
auch die Pflicht, worauf die Revision hinweist, organisatorische Vorkehrungen dafür zu
treffen, daß in ihrem Unternehmen laufend die Entwicklung der Technik auf ihrem
Arbeitsbereich verfolgt wird. In diesem Zusammenhang hätte auch die Produktentwicklung
der wichtigsten Mitbewerber beobachtet werden müssen (vgl. Veltins in Kullmann/Pfister,
aaO, Kennzahl 4310 unter B II 2d, aaO (S. 19)). Wäre sie dieser Pflicht
nachgekommen, dann hätte ihren Konstrukteuren nicht verborgen bleiben können, daß, wie
es der Sachverständige Dr. K. dargelegt hat, Hersteller mit längerer Erfahrung die von
der Beklagten noch verwendete Konstruktion aufgegeben hatten und nun geschlossene obere
Abschlüsse vorzogen. Sie hätten dann auch den Grund für diese Änderung in der
Konstruktion der Pferdeboxen erkennen und dann ihre eigene Konstruktion entsprechend
ändern müssen.