| |
Kausalität der Pflichtwidrigkeit und rechtmäßiges Alternativverhalten
Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit ist gegeben, wenn das pflichtgemäße Verhalten
die Rechtsgutsbeeinträchtigung verhindert hätte. Traditionell arbeitet man hier mit den
sog. conditio-Formeln der Bedingungslehre: conditio sine qua non und conditio cum qua non.
Letztlich ist diese Differenzierung aber nicht gerechtfertigt. Man kann nicht einfach ein
Verhalten hinwegdenken, ohne darüber nachzudenken, was an die Stelle des weggedachten
Verhaltens getreten wäre. Es geht immer nur um die Feststellung, ob das tatsächlich
nicht geschehene aber hinzuzudenkende pflichtgemäßge Verhalten die
Rechtsgutsbeeinträchtigung, den Schaden, verhindert hätte. Mit einem knappen Satz
ausgedrückt: Es geht um die Wahrheit eines irrealen Konditionals: Was wäre geschehen
(wäre die Verletzung, der Schaden nicht eingetreten), wenn der Gegner sich pflichtgemäß
verhalten hätte?
Um es anhand eines einfachen Beispiels auszudrücken: Überschreitet A
mit seinem PKW die zulässige Höchstgeschwindigkeit und überfährt den Fußgänger F, so
darf man zur Feststellung der Kausalität nicht nur das Verhalten des A - das Fahren
als solches - hinwegdenken. Jede Pflichtverletzung, die wir dem Schädiger vorwerfen,
enthält ja einen Verstoß gegen ein Verhaltensgebot. Dieses, von der verletzten Pflicht
vorgeschriebene Verhalten müssen wir hinzudenken und nun fragen, ob der Schaden auch dann
verursacht worden wäre. In unserem Beispiel müssen wir uns also das Fahren des A mit der
korrekten Geschwindigkeit denken und dann untersuchen, ob der Fußgänger in diesem Falle
ebenfalls überfahren worden wäre. Wenn ja, war zwar die Fahrt des A, nicht aber die
Pflichtverletzung kausal für die Körperverletzung des Fußgängers. Eine Haftung aus
§ 823 Abs. 1 BGB entfällt.
Im Rahmen des
§ 823 Abs. 1 BGB ist zwischen der haftungsbegründenden und
der haftungsausfüllenden Kausalität zu unterscheiden. Dies liegt daran, dass der
§ 823 Abs. 1 keinen genuinen Vermögensschutz gewährt, sondern den Weg durch
das Nadelöhr der Rechtsgutsverletzung vorschreibt. Bei der haftungsbegründenden
Kausalität fragen wir, im gerade erläuterten Sinne, ob die Pflichtverletzung kausal für
die Rechtsgutsverletzung war. Im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität geht es, bei
bereits feststehender haftungsbegründender Kausalität, nur noch um die Frage, ob der
Schaden, also die Vermögenseinbuße beim Geschädigten, kausal auf die
Rechtsgutsverletzung zurückzuführen ist.
Im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität stellt sich das schon angesprochene
Problem des rechtmäßigen Alternativverhaltens. Es geht dabei um die Frage, ob der
Schädiger sich mit dem Einwand verteidigen kann, die Rechtsgutsverletzung oder, bei
vertraglichen Haftungsgrundlagen, der Schaden wäre auch durch ein rechtmäßiges
Verhalten herbeigeführt worden oder hätte wenigstens durch ein solches herbeigeführt
werden können. So einfach, wie gerade im Beispiel geschildert, sehen die meisten
Rechtslehrer und auch die Rechtsprechung dies nicht. Nur die wenigsten Autoren halten an
der Kausalität der Pflichtverletzung als Haftungsvoraussetzung konsequent fest und kommen
so zu dem Ergebnis, dass ein Schadensersatzanspruch nur besteht, wenn Rechtsgutsverletzung
oder Schaden nicht auch auf rechtmäßige Weise hätten herbeigeführt werden können. Das
Hauptargument für diese These ist, dass das Haftungsrecht keinerlei Straffunktion,
sondern nur Ausgleichsfunktion für rechtswidrig herbeigeführte Nachteile besitzt.
Weitgehend einig ist man sich noch, wenn der Schaden mit Sicherheit auch eingetreten
wäre, wenn der Schädiger sich getreu der ihm zum Vorwurf gemachten Pflichtverletzung
verhalten hätte, so wie etwa A im obigen Autofahrerbeispiel.
Beispiel 1: (BGH VersR 1980, 573)
Hafenarbeiter H lässt eine Ladung Schrott vorschriftswidrig aus etwa 10 m Höhe
in einen Schiffsladeraum fallen, woraufhin das Schiff einknickt und sinkt. Gegen die Klage
des Schiffseigentümers macht er geltend, der Schaden wäre auch entstanden, wenn er die
Ladung vorschriftsmäßig unmittelbar über dem Schiffsboden abgelassen hätte, weil das
Schiff (durch Dritte) bereits falsch beladen war.
Dazu führt der BGH aus:
1. Wird ein Schiff durch unsachgemäßes Verhalten der Leute des
Greiferbetriebs beim Beladen beschädigt, wäre aber der Schaden auch bei sachgemäßer
Beladung eingetreten, so steht dies einem auf
BGB § 831,
BGB § 823 Abs 1
gestützten Schadensersatzanspruch des Eigentümers entgegen.
2. Die Darlegungslast und Beweislast dafür, dass der Schaden auch bei sachgemäßer
Beladung eingetreten wäre, trägt der in Anspruch genommene Geschäftsherr.
(...) Wenn das Ladegut aus zu großer Höhe abgeworfen worden und dabei der Leichter
zusammengebrochen ist, ist das Eigentum der Klägerin durch ein ursächliches Verhalten
der Leute der Beklagten rechtswidrig verletzt und damit an sich der Haftungstatbestand des
§ 823 Abs 1,
§ 831 BGB verwirklicht worden. Dem Berufungsgericht ist jedoch
zuzustimmen, dass es auch darauf ankommt, ob der Schaden in derselben Weise eingetreten
wäre, wenn der Greiferführer den Korb nach den Regeln sachgemäßer Beladung in
entsprechend geringerer Höhe über dem Schiffsboden geöffnet hätte. Stünde nämlich
ein solcher Sachverhalt fest, so wäre die Schadensersatzpflicht der Beklagten aus
ähnlichen Gründen, wie sie in Rechtsprechung und im Schrifttum unter Gesichtspunkten des
"rechtmäßigen Alternativverhaltens" erörtert werden (vgl etwa die Nachweise
in Münchkomm Grunsky vor § 249 RdNr 87 - 90), ausgeschlossen. (...)
Die Haftung für das pflichtwidrige Verhalten des Greiferführers entfällt allerdings
nur dann, wenn feststeht, dass der Schaden auch bei einer noch als sachgemäß
anzusehenden Beladung eingetreten wäre. Hierfür tragen die Beklagten, die diese
Einwendung erheben, die Darlegungslast und Beweislast. Die Klägerin hat insoweit mit dem
von ihr behaupteten und unter Beweis gestellten Geschehensablauf das Erforderliche
vorgetragen. (...) Die bloße Möglichkeit aber, dass der Schaden auch sonst eingetreten
wäre, schließt den Anspruch auf Schadensersatz nicht aus.
Es kann aber auch vorkommen, dass es nicht um eine fahrlässige Schädigung, sondern um
vorsätzliches Verhalten geht und Rechtfertigungsgründe im Spiel sind. Kann sich der
Schädiger, der ohne Rechtfertigungsgrund - also rechtswidrig - gehandelt hat,
darauf berufen, dass er den Schaden auf andere Weise rechtmäßig hätte herbeiführen
können oder gar müssen?
Beispiel 2 ("Brandgassen-Fall", BGHZ 20, 275):
a) Um im Krieg Fluchtwege zu schaffen, werden Häuser abgerissen. Nach dem
Generalabbruchplan sind Vorder- und Hinterhaus des E betroffen und werden auch abgerissen.
In der dem E zugegangenen Polizeiverfügung war jedoch irrtümlich nur das Vorderhaus
angegeben. E klagt auf Schadensersatz wegen des zerstörten Hinterhauses. Die beklagte
Stadt erwidert, dass, hätte man den Irrtum bemerkt, auch das Hinterhaus in die Verfügung
aufgenommen worden wäre.
Beispiel 3 (OLGZ 1, 308):
b) B legt auf die Weisung eines Beamten auf dem Grundstück des E einen Löschteich an,
ohne dass eine behördliche Verfügung eingeholt worden war. B wendet gegenüber der
Schadensersatzklage des E ein, die Verfügung wäre auf Antrag ergangen und damit der
gleiche Schaden entstanden.
In diesen beiden und in anderen Fällen erklärten die Gerichte die Möglichkeit
rechtmäßiger Schädigung als beachtlich und verneinten deshalb einen
Schadensersatzanspruch.
Als Argument für die Beachtlichkeit der rechtmäßigen Schädigungsmöglichkeit kann
wiederum die ausschließliche Ausgleichsfunktion des Haftungsrechts ins Feld
geführt werden. Dem Schädiger kann zwar der Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens gemacht
werden, was u.U. strafrechtliche Konsequenzen haben kann, der Geschädigte kann jedoch
nicht Ersatz für einen Schaden fordern, den er auf rechtmäßige Weise ohnehin erlitten
hätte.
Genau entgegengesetzt argumentieren diejenigen, die bei vorsätzlichem Verhalten die
rechtmäßige Schädigungsmöglichkeit für unbeachtlich erklären. Wer sich einmal für
den Weg in die Rechtswidrigkeit entschieden habe, solle sich später nicht auf
rechtmäßiges Alternativverhalten berufen können. Hier wird dem Haftungsrecht eine
Straffunktion zugesprochen, die es nicht hat. Oft wird dieses Argument im Zusammenhang mit
schweren Verfahrensfehlern bei Handlungen von Behörden gebraucht, die aber auf
rechtmäßigem Wege letztlich doch erfolgt wären. Auch hier sollte es nicht das
Haftungsrecht sein, das das rechtswidrige Vorgehen des Staate sanktioniert. Sieht der
Bürger sich durch eine rechtswidrige Verwaltungsmaßnahme beeinträchtigt, steht ihm der
Verwaltungsrechtsweg einschließlich der Regeln über den vorläufigen Rechtsschutz offen.
Soll wirklich derjenige, der auf eine Klage bei den Verwaltungsgerichten gegen eine
verfahrensfehlerhaftige Maßnahme einer Behörde verzichtet, weil er weiß, dass die
Behörde ihr Ziel am Ende doch auf rechtmäßigem Wege erreichen kann, hinterher
Schadensersatz verlangen können?
Eine Mittelansicht, die wohl als h.M. bezeichnet werden kann, stellt auf den
Schutzzweck der verletzen Norm ab und fragt, ob diese gerade das schädigende Verhalten
habe verhindern wollen oder die Schädigung überhaupt. Dazu tendiert auch der BGH,
freilich sicher weniger aus Überzeugung, sondern weil er sich mit solchen Formeln stets
die Einzelentscheidung offen halten kann.
In der nun folgenden Leitentscheidung, die das Abstellen auf den Schutzzweck
dokumentiert, geht es um eine weitere Fallgruppe innerhalb des rechtmäßigen
Alternativverhaltens, die der zweiten Fallgruppe ähnelt. Dabei ist nicht nur um eine
einzige Pflicht im Spiel, deren Verletzung wegzudenken und durch pflichtgemäßes
Verhalten zu ersetzen ist, sondern der Schädiger hat mehrere unhabhängige Pflichten
verletzt, wobei die Verletzung einer dieser Pflichten kausal für den Schadenseintritt
war. Soll in diesem Fall die Haftung entfallen, wenn der Schaden bei insgesamt
pflichtgemäßem Verhalten nicht eingetreten wäre?
Hierzu das Beispiel 3:
Ein nachlässiger Gerichtsvollzieher nimmt es mit seiner Arbeit nicht so genau und
lässt Pfändungen, die er durchführen soll, erst einmal warten. Es gehen von
verschiedenen Gläubigern nacheinander Pfändungsgesuche gegen denselben Schuldner ein.
Wegen seiner Nachlässigkeit kommt der Gerichtsvollzieher zu spät, beim Schuldner ist
nichts mehr zu holen. Jetzt verlangt der Gläubiger, dessen Pfändung in der Reihenfolge
der Eingänge an dritter Stelle lag, Schadensersatz. Er macht geltend, wenn der
Gerichtsvollzieher bezüglich seiner Pfändung pflichtgemäß gehandelt, sie also
rechtzeitig vorgenommen hätte, so wären noch pfändbare Vermögensgegenstände des
Schuldners vorhanden gewesen. Dies ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen
Pflichtverletzung und Schadenseintritt. Dagegen macht der Gerichtsvollzieher geltend, dass
der besagte Gläubiger ohnehin nichts erlangt hätte, wenn er sich insgesamt
pflichtgemäß verhalten hätte, also alle Pfändungen in ihrer Reihenfolge
ordnungsgemäß vorgenommen hätte, weil dann nach den ersten beiden Pfändungen für den
dritten Gläubiger nichts Pfändbares mehr vorhanden gewesen wäre.
Wie bereits am Leitsatz zu erkennen ist ordnet der BGH diese Problematik nicht der
Kausalität sondern der Frage nach dem Schutzzweck der verletzten Pflicht zu:
Gericht: BGH 9. Zivilsenat, Datum: 24.10.1985, Az: IX ZR 91/84
Leitsatz
1. ...
2. Der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens betrifft bei der Notarhaftung
nicht die Ursächlichkeit der Amtspflichtverletzung für den Schaden. Bei ihm geht es
vielmehr um die der Bejahung des natürlichen Ursachenzusammenhangs nachfolgende Frage,
inwieweit einem Schadensverursacher die Folgen seines pflichtwidrigen Verhaltens bei
wertender Betrachtung billigerweise zugerechnet werden können.
Der Schutzzweck der jeweils verletzten Norm entscheidet darüber, ob und inwieweit der
Einwand im Einzelfall erheblich ist.
3. Hat ein Beteiligter aufgrund einer unrichtigen notariellen Fälligkeitsbestätigung
zu früh geleistet und dazu vorzeitig Kredit aufnehmen müssen, kann der Notar gegen
dessen Schadensersatzanspruch nicht einwenden, er hätte bei pflichtgemäßem Verhalten
den Kaufpreis zum selben Zeitpunkt fällig stellen müssen, weil er die
Fälligkeitsvoraussetzungen bis dahin selbst hätte herbeiführen können und müssen.
Fundstelle
BGHZ 96, 157-174 (LT1-3)
|