| |
Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens (Straßenbahnfall)
Die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Erfolgsunrecht wird relevant, wenn es um die
Gehilfenhaftung nach
§ 831 Abs. 1 BGB geht (vgl. zum
Ganzen Kötz/Wagner,
Deliktsrecht, 10. Aufl. 2006, Rdnrn.
285 ff.). Tatbestandsvoraussetzung in
§ 831 Abs. 1 BGB ist nämlich die widerrechtliche Zufügung eines Schadens
durch einen Verrichtungsgehilfen. Jetzt ist entscheidend, was unter widerrechtlich zu
verstehen ist: die bloße Rechtsgutsverletzung des Gehilfen nach
§ 823 Abs. 1
ohne Rechtfertigungsgrund oder darüber hinaus der Verstoß gegen eine Verhaltenspflicht.
Entscheidend wirkt sich diese Frage auch auf die Verteilung der Beweislast aus, wenn
nicht aufklärbar ist, ob sich jemand sorgfaltswidrig verhalten hat. Dies kommt in der
Praxis sehr häufig vor. Ein Beispiel ist der "Straßenbahnfall", dem wir uns
nun zuwenden wollen. Ihn hat der BGH zu Anlass genommen, das Schema des traditionellen
Prüfungsaufbaus zu modifizieren.
Was war geschehen?
Der Kläger erlitt am 2. Juni 1951 beim Besteigen einer Straßenbahn
einen Unfall, bei dem er den rechten Fuß verlor.
Nach seiner Behauptung war es zu dem Unfall gekommen, weil die Straßenbahn zu früh
abgefahren sei. Der Schaffner habe das Abfahrtssignal gegeben und der Fahrer sei
abgefahren, obwohl für beide erkennbar gewesen sei, dass er, der Kläger, noch im
Begriffe gewesen sei, auf die vordere Plattform zu steigen. Auf das Notsignal des
Schaffners habe der Fahrer nicht sofort gehalten.
Er verlangt von der beklagten Straßenbahngesellschaft Schadensersatz sowie
Schmerzensgeld.
Die Beklagte machte hingegen geltend, der Kläger sei aus einer Gruppe von Wartenden
plötzlich auf den bereits fahrenden Zug gesprungen. Außerdem sei er betrunken gewesen.
Welche der beiden Darstellungen richtig ist, konnte nicht mehr aufgeklärt werden.
Dem Kläger ging es also in erster Linie um eine Haftung der Straßenbahngesellschaft.
Auch dies ist ein typisches Beispiel aus der Rechtswirklichkeit. Oft wird nicht der
unmittelbare Schädiger in Anspruch genommen, sondern man hält sich über
§ 831
Abs. 1 BGB an den Geschäftsherrn. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Ein
obsiegendes Urteil gegen den Schädiger ist wirtschaftlich oft wertlos, weil dieser nicht
das Geld hat, um seiner Verpflichtung zum Schadensersatz nachzukommen. Der Geschäftsherr
dagegen ist meistens reich.
Der aufmerksame Leser wird sich vielleicht fragen, wozu dann der ganze Streit dient,
denn die Haftung der Straßenbahngesellschaft ergibt sich doch bereits aus
§ 1
Haftpflichtgesetz (Schönfelder Nr. 33). Dies ist ein Tatbestand der
Gefährdungshaftung, bei dem es auf eine Sorgfaltspflichtverletzung ja gerade nicht
ankommt. Dies ist vollkommen richtig, doch dem Kläger ging es im Straßenbahnfall auch um
ein Schmerzensgeld, und dieses war damals nur über
§ 847 in Verbindung mit einem
Haftungstatbestand des BGB zu erlangen. Zumindest für das Schmerzensgeld kam es also auf
die Haftung der Straßenbahngesellschaft aus
§ 831 Abs. 1 BGB an.
Heute kann es ein Schmerzensgeld auch für Gefährdungshaftungen geben (§ 253
BGB).
Wir wollen zunächst, obwohl im Prozess nur die Straßenbahngesellschaft in Anspruch
genommen wurde, die Haftung des Fahrers betrachten. Für ihn als den eigentlich Handelnden
ist die einschlägige Anspruchsnorm
§ 823 Abs. 1 BGB. Nach dem traditionellen
Prüfungsaufbau ist zunächst eine vom Fahrer verursachte Körperverletzung des
Geschädigten erforderlich. Die Körperverletzung indiziert die Rechtswidrigkeit. Die
Frage, ob der Fahrer eine Sorgfaltspflicht verletzt hat, stellt sich erst im Rahmen der
Prüfung des Verschuldens, wenn untersucht wird, ob der Schädiger sich fahrlässig
verhalten hat. Rechtsgutsverletzung und Sorgfaltspflichtverstoß müssen vom Geschädigten
im Prozess dargelegt und bewiesen werden. Bleibt etwa die Frage nach dem
Sorgfaltspflichtverstoß ungeklärt, verliert der Geschädigte den Prozess.
Man kann sich die Verteilung der Beweislast an einem Schema klar machen, das die
Haftungsvoraussetzungen nach Maßgabe der Beweislast beim Geschädigten oder dem
Schädiger (hier dem Fahrer) ansiedelt. Für die Haftung des Fahrers sähe dies für die
Rechtslage vor BGHZ 24, 21 sehr einfach aus:
Wendet man dieses Modell auf die Haftung des Geschäftsherrn nach
§ 831
Abs. 1 BGB an, so fällt das Element des Sorgfaltspflichtverstoßes beim Fahrer weg:
§ 831 Abs. 1 BGB spricht nur von dem Schaden, "den der andere in
Ausführung der Verrichtung einem Dritten widerrechtlich zufügt". Es kommt
also nach dem Wortlaut des Gesetzes auf das Verschulden des Fahrers nicht an. Es genügt
vielmehr die Rechtsgutsverletzung durch den Verrichtungsgehilfen, die dann die
Rechtswidrigkeit indiziert. Für die Verschuldensebene ist nur noch der
Sorgfaltspflichtverstoß des Geschäftsherrn bei der Auswahl und Überwachung des
Verrichtungsgehilfen entscheidend. Dieses sog. Auswahl- und Überwachungsverschulden wird
in § 831 Abs. 1 S. 1 BGB zu Lasten des Geschäftsherrn vermutet. Er muss
den Entlastungsbeweis führen (§ 831 Abs. 1 S. 2).
§ 831 Abs. 1
ist also ein Haftungstatbestand für vermutetes (Auswahl- und Überwachungs-) Verschulden.
Das Beweislastbild sieht für den Geschäftsherrn nach dem traditionellen Aufbau und
vor BGHZ 24, 21 also wie folgt aus:
Bei dieser Zusammenstellung wird nicht auf den ersten Blick erkennbar, warum der
Geschäftsherr nicht haftet, wenn er den Beweis für die Verkehrsrichtigkeit des
Verhaltens des Gehilfen führen kann. Anscheinend spielt ja die Sorgfaltspflichtverletzung
des Gehilfen gar keine Rolle mehr. Bei genauerer Analyse verbirgt sich die Relevanz der
Verkehrsrichtigkeit des Gehilfenverhaltens hinter der Kausalität zwischen Überwachungs-
und Auswahlpflichtverletzung und Körperverletzung. Wenn nämlich der Gehilfe sich
verkehrsrichtig verhalten hat, kann sich das Auswahl- oder Überwachungsverschulden des
Geschäftsherrn nicht ausgewirkt haben. Ein sorgfältig ausgewählter oder überwachter
Gehilfe hätte sich auch nicht besser als verkehrsrichtig verhalten können.
Das Berufungsgericht ging im Straßenbahnfall noch von dem soeben dargestellten Modell
aus:
Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte sei nach
§ 831
BGB für den Schaden des Klägers verantwortlich, weil der Straßenbahnfahrer, vielleicht
auch der Schaffner des Motorwagens, die Körperverletzung widerrechtlich verursacht
hätten und weil die Beklagte den Entlastungsbeweis des
§ 831 Abs 1 Satz 2 Fall 1
BGB für ihre Verrichtungsgehilfen nicht angetreten habe. Das Berufungsgericht ist auf Grund der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass der Hergang des Unfalls nicht
aufzuklären sei. Es sei möglich, dass die Sachdarstellung des Klägers richtig sei, es
sei aber auch möglich, dass sich der Unfall in der von der Beklagten geschilderten Weise
abgespielt habe. Angesichts dieses negativen Ergebnisses der Beweisaufnahme kann nach
Ansicht des Berufungsgerichts die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen
dem zu vermutenden Auswahl- und Überwachungsverschulden der Beklagten und dem
eingetretenen Schaden nicht ausgeschlossen werden (§ 831 Abs 1 Satz 2 Fall 2 BGB).
Der entscheidende VI. Zivilsenat des BGH wollte jedoch von der Konsequenz, dass schon
jede Rechtsgutsverletzung per se als widerrechtlich anzusehen ist, abrücken. Zu diesem
Zweck legte er die Sache dem Großen Senat für Zivilsachen vor:
Der vorlegende VI. Zivilsenat trägt Bedenken, der Rechtsansicht des
Berufungsgerichts zu folgen. Die Bedenken richten sich vor allem gegen die Auffassung,
dass ein Verrichtungsgehilfe im Straßen- oder Eisenbahnverkehr einem anderen im Sinne des
§ 831 BGB schon dadurch rechtswidrig Schaden zufüge, dass er ihn körperlich
verletze. Es wird zur Erwägung gestellt, ob nicht zur Begründung der Widerrechtlichkeit
weiter gefordert werden müsse, dass sich der Verrichtungsgehilfe als Teilnehmer am
Straßen- oder Eisenbahnverkehr objektiv ordnungswidrig (verkehrswidrig) verhalten habe.
Zur Begründung wird auf die Rechtsordnungen über den Verkehrsablauf hingewiesen, die das
Verhalten der Verkehrsteilnehmer in immer weiter gehendem Maße im Einzelnen regeln. Es
wird ferner auf den Rechtsgedanken der sozialen Adäquanz und Entwicklungen in der
modernen Strafrechtslehre Bezug genommen, insbesondere darauf, dass nach dieser Lehre der
Fahrlässigkeitsbegriff wesentliche Erfordernisse umfasse, die zum Gebiet der
Rechtswidrigkeit und nicht zur Schuld gehören. Werde das Rechtswidrigkeitsurteil bei
Verkehrsunfällen nicht schon an den eingetretenen Erfolg, sondern erst an die
Übertretung der für das Verhalten im Verkehr geltenden Rechtsregeln geknüpft, so liegt
es nach Ansicht des Vorlageberichts nahe, dass die bisherige Auffassung über die
Beweislastverteilung bei Anwendung des
§ 831 BGB nicht mehr aufrecht erhalten werden
kann. Insbesondere soll das für Fälle gelten, die die Gestaltung des Vorlagefalls
aufweisen und eben dadurch gekennzeichnet sind, dass angesichts der fehlenden Aufklärung
des Unfallgeschehens ein objektiv ordnungswidriges Verhalten des Verrichtungsgehilfen
nicht festgestellt werden kann.
Der VI. Zivilsenat misst der Klärung dieser Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung zu.
Er hat sie daher gemäß
§ 137 GVG zur Entscheidung des Großen Senats für
Zivilsachen gestellt und wie folgt formuliert:
"Fügt ein Verrichtungsgehilfe im Straßen- oder Eisenbahnverkehr einem anderen im
Sinne von
§ 831 Abs 1 BGB schon dadurch widerrechtlich Schaden zu, dass er dessen
Leben, Körper, Gesundheit oder Eigentum verletzt? Oder ist zur Begründung der
Widerrechtlichkeit weiter Voraussetzung, dass sich der angestellte Verkehrsteilnehmer im
Verkehr objektiv ordnungswidrig (verkehrswidrig) verhalten hat? Haftet der Geschäftsherr,
der sich für fehlendes Auswahl- oder Überwachungsverschulden nicht entlastet, auch dann
gemäß
§ 831 BGB, wenn nach der Beweisaufnahme die Möglichkeit offen geblieben
ist, dass der Verrichtungsgehilfe die objektiven Sorgfaltspflichten eingehalten,
insbesondere die Vorschriften des Straßen- oder Bahnverkehrs beobachtet hat?"
Hierüber hatte der Große Senat für Zivilsachen zu entscheiden:
1. Wenn
§ 831 BGB die Haftung des Geschäftsherrn davon abhängig
macht, dass sein Verrichtungsgehilfe einem anderen in Ausführung der Verrichtung
widerrechtlich Schaden zugefügt hat, so wird mit diesem Erfordernis an die
Gesetzestatbestände des Deliktsrechts angeknüpft, in denen die zum Schadensersatz
verpflichtenden unerlaubten Handlungen umschrieben und abgegrenzt werden. Nicht jede
Schädigung soll die Haftung auslösen, sondern nur eine solche, die unter einen
Haftungstatbestand des Deliktsrechts fällt und damit "unerlaubte Handlung" im
Sinne der
§§ 823ff BGB ist. Damit ist für das hier in Frage stehende Gebiet der
Verkehrsunfälle in erster Linie ein Zurückgreifen auf die Bestimmung des
§ 823
BGB, insbesondere dessen Absatz 1 erforderlich. Aus den im Straßen- und Eisenbahnverkehr
immer wieder vorkommenden Verletzungen des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder des
Eigentums werden Schadensersatzansprüche hergeleitet. Nun enthält auch die Bestimmung
des
§ 823 Abs 1 BGB das Erfordernis, dass die Verletzung der aufgezählten
Rechtsgüter widerrechtlich sein, also im Widerspruch zur Rechtsordnung stehen muss. Der
Gesetzgeber bringt aber dadurch, dass er den Unrechtstatbestand gesetzlich umschreibt, zum
Ausdruck, dass er die Verletzung der in
§ 823 Abs 1 BGB genannten Rechtsgüter in
der Regel als widerrechtlich ansieht. Durch den Zusatz "widerrechtlich" weist er
jedoch darauf hin, dass nicht notwendig mit der Verletzung schon die Rechtswidrigkeit
gegeben ist, sondern dass diese aus besonderen Gründen entfallen kann. Man mag darüber
streiten, ob dieser Hinweis erforderlich war. Sicher ist er für die Rechtsanwendung
wertvoll, indem er den Richter darauf aufmerksam macht, dass jede tatbestandliche
Umschreibung eines Unrechtsverhaltens notwendig unvollkommen und daher die Pflicht zur
Prüfung ernst zu nehmen ist, ob nicht das zunächst bei Erfüllung des Tatbestandes
nahe gelegte Urteil der Rechtswidrigkeit aus besonderem Grund zurückgenommen werden muss.
Darüber, wann ein Rechtfertigungsgrund gegeben ist, hat das Bürgerliche Gesetzbuch keine
erschöpfende Regelung getroffen. Die zunächst vorgesehene Bestimmung über die
Einwilligung als Rechtfertigungsgrund wurde bei der Gesetzesberatung wieder gestrichen,
weil man es der Rechtsanwendung überlassen wollte, insoweit die Grenzen der
Rechtfertigung abzustecken (Protokolle Band II S 578). Auch im Übrigen haben
Rechtswissenschaft und Rechtsprechung erst nach und nach jene Grundsätze entwickelt, die
etwa aus dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag, der Wahrung berechtigter
Interessen oder der Güterabwägung zum Ausschluss der Rechtswidrigkeit herangezogen
werden können. Es besteht also kein abgeschlossener gesetzlicher Katalog von
Rechtfertigungsgründen im Sinne eines numerus clausus, der der Rechtsentwicklung von
vornherein hinzunehmende Grenzen setzen würde. Deshalb ist ein Eingehen auf die Sache
erforderlich, wenn der Vorlagebericht des VI. Zivilsenats die Frage zur Erörterung
stellt, ob nicht auf dem besonderen Gebiet des Straßen- und Eisenbahnverkehrs ein zwar
äußerlich den Tatbestand des
§ 823 Abs 1 BGB erfüllendes Verhalten dann von dem
Urteil der Rechtswidrigkeit freigestellt werden muss, wenn es im Einklang mit der
gesetzlichen Ordnung des Straßen- oder Eisenbahnverkehrs gestanden hat.
Den in dieser Richtung angestellten Gedankengängen des Vorlageberichts ist im
Grundsatz zuzustimmen. Zwar mag der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht
erkannt haben, dass hier Gesichtspunkte zur Erörterung stehen, die schon die objektive
Rechtswidrigkeit und nicht nur die Schuld im Sinne einer persönlichen Zurechnung angehen.
Erst mit der technischen Entwicklung des Verkehrs und der Steigerung der Verkehrsgefahren
zeichneten sich jene Probleme ab, die sich aus dem modernen Massenverkehr für die
Rechtsordnung ergeben. Der Gesetzgeber wurde vor die Notwendigkeit gestellt, durch immer
mehr ins einzelne gehende Rechtsvorschriften (Verkehrs- und Betriebsordnungen) die
Pflichten der Verkehrsteilnehmer so zu regeln, dass die Gefahrenmöglichkeiten auf ein
möglichst geringes Maß herabgesetzt wurden. Gleichzeitig wurden die Gesetzesbestimmungen
über die Gefährdungshaftung ausgebaut, um die aus dem modernen Verkehr zwangsläufig
sich ergebenden Gefahren und Risiken in ihrer wirtschaftlichen Auswirkung sozial
angemessen zu verteilen. Dabei wurde in zunehmendem Maße erkannt, dass es sich hierbei
nicht um eine Haftung für Unrecht handelt, sondern um eine den Beherrscher eines
Gefahrenbereichs treffende Pflicht, für gewisse typische Gefährdungsfolgen seines
Betriebs einzustehen (Esser JZ 1953, 129). Mit dieser Rechtsentwicklung ist eine
Auffassung nicht mehr vereinbar, die im Deliktsrecht auch die unvermeidbaren Schädigungen
des Straßen- und Eisenbahnverkehrs als rechtswidrige Körper- oder Eigentumsverletzungen
ansieht und nur unter dem Gesichtspunkt fehlender Schuld die Schadenshaftung verneint.
Indem die Rechtsordnung den gefahrvollen Verkehr zulässt und den Teilnehmern an diesem
Verkehr im Einzelnen vorschreibt, wie sie ihr Verhalten einzurichten haben, spricht sie
auch aus, dass sich ein Verhalten unter Beachtung dieser Vorschriften im Rahmen des Rechts
hält. Es geht nicht an, ein Verkehrsverhalten, das den Ge- und Verboten der
Verkehrsordnung voll Rechnung trägt, trotzdem mit dem negativen Werturteil der
Rechtswidrigkeit zu versehen. Hierfür gibt der eingetretene Erfolg keinen ausreichenden
Grund her, da das Urteil der Rechtswidrigkeit im Sinne der Bestimmungen des Bürgerlichen
Gesetzbuches über unerlaubte Handlungen die zum Erfolg führende Handlung nicht
unberücksichtigt lassen kann. Es ist daher der Satz aufzustellen, dass bei
verkehrsrichtigem (ordnungsgemäßem) Verhalten eines Teilnehmers am Straßen- oder
Eisenbahnverkehr eine rechtswidrige Schädigung nicht vorliegt.
Dahingestellt mag bleiben, ob es sich bei diesem Ergebnis um einen Sonderfall der
Anwendung des Rechtsgedankens der sogenannten sozialen Adäquanz handelt. Es braucht
angesichts der Beschränkung der Fragestellung auf das Gebiet des Verkehrsrechts ebenfalls
nicht darauf eingegangen zu werden, ob dasselbe Ergebnis auch dadurch zu gewinnen ist,
dass auf die neuere Auffassung der strafrechtlichen Dogmatik zurückgegriffen wird, die
den Fahrlässigkeitsbegriff aufspaltet, indem sie die Prüfung der Einhaltung der objektiv
erforderlichen Sorgfalt zur Rechtswidrigkeit rechnet und nur die Frage der Zurechnung des
missbilligten Verhaltens an den einzelnen Täter als Schuldprüfung versteht (Welzel,
Deutsches Strafrecht, 5. Aufl S 104ff; derselbe, Das neue Bild des Strafrechtssystems, 3.
Aufl S 31ff; Henkel, Festschrift für Mezger 1954, 249 (282)). Bedenken müssten
jedenfalls angemeldet werden, wenn dieser komplexe Fahrlässigkeitsbegriff der neueren
Strafrechtslehre mit der Folgerung in das Zivilrecht übernommen würde, dass auch im
Haftungsrecht stets unter dem Gesichtspunkt einer besonderen Schuldprüfung an das
Verhalten des Schädigers ein individueller, die besondere Persönlichkeitsartung
berücksichtigender Beurteilungsmaßstab anzulegen wäre (vgl Nipperdey, Festschrift für
Alex Meyer, 1954, 95 (100); Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen
Rechts 1955, § 211 II). Damit wäre zwar äußerlich eine Harmonisierung der
rechtlichen Begriffsbildung erreicht, aber den wesensgemäßen Unterscheidungen nicht
Rechnung getragen, die sich aus der spezifischen Eigenart und Zwecksetzung zweier
verschiedener Rechtsgebiete ergeben. Insbesondere würde diese Auffassung der Vorschrift
des
§ 276 Abs 1 Satz 2 BGB, wie sie in der Rechtsanwendung stets verstanden ist,
nicht gerecht (vgl Niese JZ 1956, 457 (465)).
2. Die Vorlagefrage macht nunmehr die Prüfung erforderlich, welche Folgerungen sich
aus dem dargelegten Standpunkt für die Beweislastverteilung ergeben. Dabei ist zunächst
der Hinweis zu wiederholen, dass der Gesetzgeber durch die Aufstellung einzelner
Deliktstatbestände dem Richter die Prüfung erleichtern will, ob eine Unrechtshandlung
vorliegt oder nicht. Anders als bei einer deliktischen Generalklausel, die der Wertung des
Richters notwendig einen großen Spielraum lassen muss, geben die das haftungsbegründende
Unrecht in kasuistischer Art umschreibenden Deliktstatbestände der
§§ 823 bis 825
BGB der Rechtsanwendung eine feste Grundlage, indem sie das Rechtswidrigkeitsurteil
zunächst nahe legen. So ist auch bei Verletzung der im
§ 823 Abs 1 BGB besonders
genannten Rechtsgüter, die das Gesetz in bevorzugter Weise schützen will, die
Heranziehung eines besonderen Rechtfertigungsgrundes erforderlich, wenn dargetan werden
soll, dass eine Verletzung ausnahmsweise nicht das Unwerturteil der Rechtswidrigkeit
verdient (Motive Band II S 726; RGZ 50, 60 (65); Enneccerus-Lehmann, Recht der
Schuldverhältnisse 1954, S 912, 915). Das gilt unabhängig davon, ob die
Verletzungshandlung von einem Verletzungsvorsatz getragen war. Dieses im System unserer
Deliktsrechtsordnung begründete und in der Rechtsanwendung bewährte Verhältnis von
Regel und Ausnahme hat gemäß den anerkannten Grundsätzen des Beweisrechts die Folge,
dass dem Verletzer eines geschützten Rechtsguts der Beweis für das Vorliegen eines
Rechtfertigungsgrundes obliegt (RG SeuffArch 81, 50; RGZ 159, 235 (240); RG JW 1930,
3400). In dieser Hinsicht kann der Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens
im Straßen- und Eisenbahnverkehr keine Sonderstellung beanspruchen.
Diese Beweislastverteilung bedeutet bei der Anwendung des
§ 823 Abs 1 BGB auf
Verkehrsunfälle, dass der Schädiger, indem er den Beweis für sein verkehrsrichtiges
Verhalten antritt, das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes dartun kann. Ist der Beweis
geführt, wird die Schuldprüfung gegenstandslos, weil es schon an einer rechtswidrigen
Schadenszufügung fehlt. Ist dagegen die Frage des verkehrsrichtigen Verhaltens des
Schädigers ungeklärt, so ist von einer rechtswidrigen Verletzungshandlung auszugehen.
Die Haftungsfrage ist damit noch nicht entschieden. Denn
§ 823 Abs 1 BGB setzt
weiter voraus, dass die Verletzungshandlung (vorsätzlich oder) fahrlässig war. Der
Geschädigte muss also beweisen, dass der Schädiger (vorsätzlich oder) iS des
§ 276 Abs 1 Satz 2 BGB fahrlässig gehandelt, also die im Verkehr erforderliche
Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Auch bei dieser Prüfung wird es natürlich wesentlich
darauf ankommen, ob die Verhaltungsvorschriften der Verkehrsordnung eingehalten sind. Dass
die nämliche Frage des verkehrsrichtigen Verhaltens auf dem Gebiet der Rechtswidrigkeit
und dem Gebiet der Schuld Bedeutung gewinnen kann, ist bedingt durch die Fassung und
rechtliche Einordnung des Fahrlässigkeitsbegriffs, wie sie dem Bürgerlichen Gesetzbuch
zugrunde liegen. Für die praktische Rechtsanwendung bleibt es bei dem Ergebnis, dass der
Geschädigte die vollen Voraussetzungen des auf
§ 823 Abs 1 BGB gestützten
Schadensersatzanspruchs beweisen muss und dass demgemäß - von den Fallgestaltungen des
Beweises des ersten Anscheins abgesehen - eine mangelnde Aufklärung des Sachverhalts zu
seinen Lasten geht.
Anders ist die Beweislastverteilung bei Anwendung des
§ 831 BGB. Hier ist vom
Gesetzgeber bewusst die Haftung des Geschäftsherrn nur davon abhängig gemacht, dass der
Verrichtungsgehilfe rechtswidrig, nicht auch davon, dass er vorsätzlich oder fahrlässig
den Schaden zugefügt hat. Es können also, soweit es sich um das Verhalten des
Verrichtungsgehilfen handelt, nur die Beweislastgrundsätze zur Anwendung kommen, die die
Ebene der Rechtswidrigkeit betreffen. Demgemäß muss der Geschädigte beweisen, dass der
Verrichtungsgehilfe eines der im
§ 823 Abs 1 BGB geschützten Rechtsgüter durch
eine adäquat ursächliche Handlung verletzt hat. Dem Geschäftsherrn obliegt dagegen der
Beweis, dass das Verhalten des Verrichtungsgehilfen rechtmäßig (verkehrsrichtig) war,
weil es der gesetzlichen Ordnung des Straßen- oder Eisenbahnverkehrs entsprach. Zweifel
gehen insoweit zu Lasten des Geschäftsherrn. Andererseits fehlt es dann, wenn ein
verkehrsrichtiges Verhalten des Verrichtungsgehilfen feststeht, bereits an einer
Anspruchsvoraussetzung des
§ 831 BGB, so dass es nicht mehr eines Eingehens darauf
bedarf, ob der Beweis des fehlenden ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem zunächst
vermuteten Auswahl- oder Überwachungsverschulden und dem Schadenseintritt geführt werden
kann (Entlastungsbeweis 2 des
§ 831 Abs 1 Satz 2 BGB). Unter dem letzteren
Gesichtspunkt hatte das Reichsgericht die Haftung des Geschäftsherrn dann verneint, wenn
zur Überzeugung des Richters feststand, dass auch ein sorgfältig ausgewählter und
beaufsichtigter Angestellter in der gegebenen Lage nicht anders hätte handeln können
(RGZ 135, 149 (155); 159, 312 (315)). Dass die Erbringung des ersten Entlastungsbeweises
des § 831 Abs 1 Satz 2 BGB ein Eingehen auf die Frage der rechtswidrigen Schädigung
entbehrlich macht, versteht sich von selbst.
Es ist nicht zu verkennen, dass bei Verkehrsunfällen, die in ihrem Ablauf ungeklärt
geblieben sind, die dargelegte Beweislastregelung den Geschädigten für den Fall besser
stellt, dass der Verrichtungsgehilfe und nicht der Geschäftsherr selbst den Unfall
verursacht hat. Im letzteren Falle wird die Haftung des Geschäftsherrn in der Regel
ausscheiden, da ein Verschulden nicht festgestellt werden kann, bei Verursachung durch den
Verrichtungsgehilfen dagegen haftet der Geschäftsherr, der den Entlastungsbeweis für
fehlendes Auswahl- und Überwachungsverschulden nicht führen kann. Doch ist diese
Besserstellung vom Gesetzgeber erkennbar gewollt, indem er, soweit das Verhalten des
Verrichtungsgehilfen in Betracht kommt, geringere Anspruchsvoraussetzungen aufgestellt
hat. Hierin liegt ein gewisser Ausgleich dafür, dass im Übrigen die Rechtslage des von
einem Verrichtungsgehilfen Geschädigten infolge der möglichen und meist zum Zuge
kommenden Entlastung recht ungünstig ist. Gerade wegen dieses Zusammenhangs geht es nicht
an, den für den Geschädigten günstigen Teil der Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuches
über die deliktische Haftung für Hilfspersonen in der Rechtsanwendung
beiseitezuschieben. Berücksichtigt man, dass in dieser Regelung - wenn auch unvollkommen
- der Gedanke des Einstehens für ein Betriebsrisiko zum Ausdruck kommt, so ist es auch
nicht unangemessen, demjenigen, aus dessen Bereich die Gefährdung hervorgegangen ist,
eine Beweisführung über das Zustandekommen der Schädigung zuzumuten, zu der er zwar
nicht immer, aber doch in der Regel eher in der Lage sein wird als derjenige, auf den das
Ereignis zugekommen ist. Auch soweit es sich um die Beschaffung der "Vorrichtungen
und Gerätschaften" handelt, wozu die Verkehrsmittel zu rechnen sind, hat das Gesetz
aus dem gleichen Grund dem Geschäftsherrn im Rahmen des
§ 831 BGB eine gesteigerte
Aufklärungs- und Beweispflicht auferlegt. Steht die Würdigung des Verhaltens des
Verrichtungsgehilfen zur Erörterung, muss zudem der Gesichtspunkt Beachtung finden, dass
der Verrichtungsgehilfe - das ist der Sinn der Beweisumkehrung so lange als für seine
Aufgabe ungeeignet anzusehen ist, bis der Geschäftsherr die Beachtung der im
§ 831 Abs 1 Satz 2 BGB näher umschriebenen Sorgfalt dargetan hat.
Der BGH führte also in BGHZ 24, 21 einen Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen
Verhaltens ein. Damit war entschieden, dass nicht schon die bloße Rechtsgutsverletzung
zur Rechtswidrigkeit des Verhaltens führt, sondern bei verkehrsrichtigem Verhalten des
Schädigers die Rechtswidrigkeit entfällt. Durch die dogmatische Einordnung als
Rechtfertigungsgrund konnte jedoch die alte Beweislastverteilung aufrecht erhalten werden:
Das Ergebnis mag auf den ersten Blick überraschend erscheinen. Obwohl das
verkehrsrichtige Verhalten auf der Seite des Fahrers liegt, wird nicht er durch die
Nichtaufklärbarkeit belastet, sondern der Geschädigte. Das liegt allein daran, dass in
der traditionellen Unrechtskonzeption wie in der Konzeption des vermittelnden
Lösungsansatzes für unmittelbare Rechtsgutsbeeinträchtigungen das verkehrsrichtige
Verhalten sowohl bei der Rechtswidrigkeit wie bei der Schuld eine Rolle spielt. Im Rahmen
der Rechtswidrigkeit belastet die Nichtaufklärbarkeit des verkehrsrichtigen Verhaltens
den Fahrer. Im Rahmen der Schuld, des nach
§ 276 Abs. 2 erforderlichen
Sorgfaltspflichtverstoßes, belastet sie dagegen den Geschädigten. Im Ergebnis nützt es
dem Geschädigten deshalb nichts, dass das Verhalten des Fahrers aus Beweislastgründen
als rechtswidrig qualifiziert wird.
Die Beweislastverteilung bei der Haftung des Geschäftsherrn stellt sich nach dem
traditionellen Prüfungsaufbau und der Modifikation durch BGHZ 24, 21 wie folgt dar:
Wie sieht die Beweislastverteilung bei der modernen Lösung aus?
Da zeigt sich nun ein Unterschied, wie er schärfer nicht sein kann. Nach der
traditionellen und der vermittelnden Lösung gewinnt der Geschädigte den Prozess gegen
den Geschäftsherrn, nach der modernen Lösung müsste er ihn verlieren, wenn die Frage
nach dem verkehrsrichtigen Verhalten unbeantwortet bleibt.
Ob man dem Geschäftsherrn oder dem Schädiger die Beweislast für das verkehrswidrige
Verhalten des Schädigers aufbürden soll, ist eine umstrittene Frage. Der BGH hat sich
mit seiner Konstruktion für eine Privilegierung des Geschädigten bei Inanspruchnahme des
Geschäftsherrn entschieden (Kötz/Wagner, Deliktsrecht,
10. Aufl. 2006, Rdnr. 290):
Wird beispielsweise ein Fußgänger durch den Lieferwagen einer Apotheke verletzt und
bleibt ungeklärt, ob der Fahrer sich verkehrsrichtig verhalten hat, so haftet der Inhaber
der Apotheke dem Geschädigten nicht, wenn er selbst am Steuer saß. Die Klage des
Fußgängers hätte dagegen Erfolg, wenn ein Gehilfe des Apothekers der Fahrer war. Kötz/Wagner
halten dies für eine ungerechtfertigte Begünstigung des Geschädigten, für die kein
Anlass bestehe. Die Beweislastumkehr in
§ 831 Abs. 1 BGB dürfe nur so weit
gehen, wie die internen Verhältnisse des Geschäftsbetriebes, in die der Geschädigte
regelmäßig keinen Einblick hat, betroffen sind. Hierzu gehören zwar Auswahl und
Überwachung des Gehilfen, nicht aber die Frage seines verkehrsrichtigen Verhaltens.
Schließt man sich der Ansicht von Kötz/Wagner an, so bietet der moderne Prüfungsaufbau
ein geschlossenes Bild, ohne dass es der umständlichen Konstruktion des verkehrsrichtigen
Verhaltens als Rechtfertigungsgrund bedarf.
Wünscht man hingegen im Rahmen der modernen Lösung die Beweislast für das
verkehrsrichtige Verhalten des Gehilfen beim Geschäftsherrn, muss man zu einer Korrektur
des
§ 831 Abs. 1 BGB greifen und auf die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit der
durch den Gehilfen erfolgten Schädigung verzichten. Dann ergäbe sich die folgende
Beweislastverteilung:
Wie schon beim ursprünglichen traditionellen Bild taucht jetzt das verkehrsrichtige
Verhalten des Gehilfen in der Übersicht nicht mehr auf. Gleichwohl steckt in der
Kausalität zwischen Pflichtverletzung des Geschäftsherrn bei Auswahl und Überwachung
des Gehilfen das gesuchte Kriterium: Kann der Geschäftsherr beweisen, dass der Gehilfe
sich verkehrsrichtig verhalten hat, fehlt es an der Kausalität zwischen dem vermuteten
Auswahlverschulden und der Körperverletzung. Auch ein pflichtgemäß ausgewählter und
überwachter Gehilfe konnte sich nicht anders als verkehrsrichtig verhalten.
|