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Handlungsunrecht und Erfolgsunrecht

In unseren bisherigen Erörterungen sind wir wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ein Fehlverhalten dadurch gekennzeichnet ist, dass ein Verhaltensgebot verletzt wird. Bei den Haftungstatbeständen der §§ 823 Abs. 2 und 826 BGB liegt die Richtigkeit dieser Konzeption auf der Hand. Einmal wird gegen staatlich gesetzte Schutznormen verstoßen; zum anderen werden Gebote des Anstands und der guten Sitten verletzt. Für den Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB ist unsere Annahme aber gar nicht so selbstverständlich. Wir stoßen im Gegenteil auf einen Grundlagenstreit über das zutreffende Unrechtskonzept. Für die einen ist es das Erfolgsunrecht, für die anderen das Verhaltensunrecht. In der Erfolgsunrechtslehre qualifiziert die Tatbestandsmäßigkeit des Eingriffs in ein geschütztes Rechtsgut das Verhalten als rechtswidrig (mit dem Vorbehalt der Rechtfertigungsmöglichkeit durch besondere Rechtfertigungsgründe wie Einwilligung, Notwehr, Notstand und Wahrnehmung berechtigter Interessen). Nach der Verhaltensunrechtslehre muss in jedem Fall die Verletzung eines Verhaltensgebots festgestellt werden. Dabei unterscheidet sich § 823 Abs. 1 BGB von den Tatbeständen des § 823 Abs. 2 BGB und § 826 BGB nur durch die Quelle der Verhaltensgebote. Sie stammen nicht vom staatlichen Gesetzgeber. Sie sind auch nicht dem Sittengesetz entlehnt. Ihre Quelle ist das Richterrecht.

Wir können uns die unterschiedlichen Konzeptionen am Prüfungsaufbau für § 823 Abs. 1 BGB verdeutlichen.

Der traditionelle Prüfungsaufbau

Der traditionelle Prüfungsaufbau unterscheidet im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB die drei Ebenen der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld.

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Im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit ist eine Rechtsgutsbeeinträchtigung festzustellen und auf ein Verhalten zurückzuführen, das als adäquat kausal für die Rechtsgutsbeeinträchtigung gewertet wird. Das Verhalten wird differenziert nach aktivem Tun und passivem Unterlassen. Die Kausalitätsformel für das aktive Tun ist die conditio sine qua non-Formel. Die Kausalitätsformel für das passive Unterlassen die conditio cum qua non-Formel. Einmal wird also das aktive Tun hinweggedacht und beim anderen Mal ein aktives Tun hinzugedacht. Kausalität ist jeweils gegeben, wenn die Rechtsgutsbeeinträchtigung entfällt. Beim Unterlassen tritt als zusätzliches Moment hinzu, dass man nur solche Verhaltensweisen für eine Haftungsbegründung hinzudenken darf, zu denen der Betreffende verpflichtet gewesen wäre. Hier treten dann die Probleme der Begründung einer sog. Garantenstellung auf. Die bekanntesten Begründungstatbestände sind die Fürsorgepflicht aus enger persönlicher Beziehung (Paradigma: Familienangehörige), die Pflicht aus besonderer beruflicher Verantwortung (Paradigma: der Arzt) und die Abwehrpflicht aus vorangegangenem Gefahr erhöhendem Tun.

Kann die Tatbestandsmäßigkeit festgestellt werden, so indiziert die Tatbestandsmäßigkeit im Rahmen des traditionellen Prüfungsaufbaus zu § 823 Abs. 1 BGB die Rechtswidrigkeit. Diese kann nur durch Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen werden.

Wird auch die Rechtswidrigkeit bejaht, kommt es zur Prüfung der Schuld. Schuldfähigkeit des rechtswidrig Handelnden vorausgesetzt, geht es um die beiden Schuldformen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit. Vorsätzlich handelt, wer eine Rechtsgutsverletzung mit Wissen und Wollen herbeiführt. Fahrlässig handelt nach der Definition in § 276 Abs. 2 BGB, "wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt".

Hinter diesem traditionellen Prüfungsaufbau steht als ungenannter paradigmatischer Fall der vorsätzliche Eingriff in ein Rechtsgut eines anderen. A schlägt dem B auf die Nase. C tritt dem F vor das Schienbein. G wirft die Fensterscheibe des H ein. Verändert man das Paradigma, wird das Konzept brüchig. A stellt ein Gewehr her, mit dem B den C auf der Jagd erschießt. Der Autohändler H verkauft und übereignet an F ein Kraftfahrzeug, mit dem bei einem Unfall K auf das Schwerste verletzt wird. M hält sich an alle nur erdenklichen Verkehrsvorschriften und überfährt - für ihn nicht erkennbar - ein Kind. Ist das Verhalten des Herstellers des Gewehres, des Verkäufers des Autos und des sorgfältigen Autofahrers nur deshalb als rechtswidrig zu qualifizieren (Unrechtsindikation), weil ohne das jeweilige Verhalten es nicht zu den beklagenswerten Rechtsgutsverletzungen gekommen wäre? Soll eine Notwehrhandlung (zur Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs) gegen die Herstellung von Jagdgewehren und den Verkauf von Autos möglich sein? Soll keine Notwehr- oder Nothilfehandlung gegen den Fahrer des Autos möglich sein, der gerade im Begriff ist, ein Kind zu überrollen?

Die Fragen zur Notwehr bilden ein schönes Beispiel dafür, wie Suggestionen in die Irre führen können. Selbstverständlich soll keine Notwehrhandlung gegen den Hersteller des Jagdgewehrs und den Verkäufer des Autos möglich sein. Ebenso selbstverständlich erscheint es uns, dass es von Rechts wegen erlaubt sein muss, dem Kind gegebenenfalls auch mit einem Angriff auf das heranrollende Auto zu helfen. Das zeigt nur. dass Notwehrargumentationen, wiewohl sie häufig in diesem Zusammenhang angestellt werden, für die Frage nach der richtigen Unrechtskonzeption nichts austragen. Man muss die Frage nach dem haftungsbegründenden Unrecht trennen von den Voraussetzungen einer Notwehr- oder Nothilfehandlung. Notwehr und Nothilfe sind dann gerechtfertigt, wenn der in seinen Rechtsgütern Bedrohte die Rechtsgutsverletzung nicht dulden muss. Die Duldungspflicht hat mit der Frage, ob das abzuwehrende Verhalten seinerseits gegen ein Verhaltensgebot verstößt und deshalb rechtswidrig ist, nichts zu tun.

Löst man sich von den Fesseln der Notwehrproblematik, so kann man insbesondere mit Blick auf entferntere Ursachen die Frage stellen: "Soll ein Verhalten mit dem Unwerturteil der Rechtswidrigkeit belegt werden, das gegen keinerlei Verhaltensgebote verstößt?" Im ersten Zugriff fällt die Antwort verneinend aus. Wie aber müsste dann der Prüfungsaufbau für § 823 Abs. 1 BGB gestaltet werden?

Der moderne Prüfungsaufbau

Der moderne Prüfungsaufbau (vgl. dazu schon die Einführungsbücher von Schwab, Einführung in das Zivilrecht, 15 Aufl. 2002, Rdnrn. 261 ff; Schmidt/Brüggemeier, Zivilrechtlicher Grundkurs, 6. Aufl. 2002, S. 293 ff.) versucht, der Verhaltensunrechtskonzeption dadurch Rechnung zu tragen, dass er zunächst einmal trennt zwischen vorsätzlichen und nichtvorsätzlichen Rechtsgutsbeeinträchtigungen.

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Für die vorsätzlichen Rechtsgutsbeeinträchtigungen bleibt es bei der klassischen Konzeption. Sie indizieren die Rechtswidrigkeit. Die Rechtswidrigkeit kann nur ausgeschlossen werden durch das Vorliegen besonderer Rechtfertigungsgründe.

Im Bereich des nicht vorsätzlich auf die Herbeiführung der Rechtsgutsbeeinträchtigung gerichteten Verhaltens entfällt die Unrechtsindikation. Stattdessen ist positiv festzustellen, gegen welches Verhaltensgebot das an den Tag gelegte Verhalten verstößt. Kann man einen solchen Verstoß festmachen, war dem Betreffenden also ein anderes Verhalten geboten als das, das er an den Tag gelegt hatte, dann stellt sich die Frage, ob bei dem gebotenen Verhalten die Rechtsgutsbeeinträchtigung ausgeblieben wäre. Kann man diese Frage bejahen, muss schließlich noch geprüft werden, ob die Rechtsgutsbeeinträchtigung im Schutzbereich der verletzten Pflicht liegt, ob m.a.W. das Verhaltensgebot gerade zur Vermeidung der beklagten Rechtsgutsverletzung aufgestellt worden ist.

Betrachtet man diesen Prüfungsaufbau im Überblick, so fällt auf, dass im Hinblick auf die Verschuldensvoraussetzungen bei nicht vorsätzlichen Rechtsgutsbeeinträchtigungen nurmehr die Zurechnungsfähigkeit übrig geblieben ist. Die Fahrlässigkeitsprüfung fällt unter den Tisch. Der Grund dafür liegt im objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab des Zivilrechts. Man hat, wie § 276 Abs. 2 BGB sagt, für die im Verkehr erforderliche Sorgfalt einzustehen. Dies gilt auch dann, wenn man subjektiv den Anforderungen des Verkehrs nicht gewachsen ist. Die im Zusammenhang mit der Rechtswidrigkeit geprüften Verhaltensgebote decken sich mit den Verkehrs- und Sorgfaltsgeboten in § 276 Abs. 2 BGB. Dies unterscheidet die zivilrechtliche von der strafrechtlichen Rechtswidrigkeits- und Fahrlässigkeitsprüfung. Der subjektive Fahrlässigkeitsbegriff des Strafrechts eröffnet neben den objektiven Pflichtverletzungen ein eigenes Prüfungsfeld. Der objektive Fahrlässigkeitsbegriff des Zivilrechts tut das nicht.

Vermittelnder Lösungsansatz

Das sehen bei weitem nicht alle Rechtslehrer so. Ein vermittelnder Lösungsansatz für den § 823 Abs. 1 BGB (vgl. Deutsch, Der Begriff der Fahrlässigkeit im Zivilrecht, JZ 1987, 505) bleibt bei dem dreigestuften Aufbau (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld) und versucht, die geschilderten Probleme mithilfe der Differenzierung unmittelbarer und mittelbarer Rechtsgutsbeeinträchtigungen in den Griff zu bekommen.

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Liegt eine Rechtsgutsbeeinträchtigung im unmittelbaren Handlungsverlauf eines aktiven Tuns, so spricht man von einer unmittelbaren Rechtsgutsbeeinträchtigung. Der unmittelbaren Rechtsgutsbeeinträchtigung wird die Kraft zur Unrechtsindikation zugesprochen. Die indizierte Rechtswidrigkeit kann nur durch den Nachweis von Rechtfertigungsgründen ausgeschlossen werden. Es schließt sich eine Prüfung der Schuld in den beiden Schuldformen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit an.

Bei Rechtsgutsbeeinträchtigungen, die nicht im unmittelbaren Handlungsverlauf eines aktiven Tuns liegen (Herstellung von Gewehren, Verkauf von Autos) spricht man von nur mittelbaren Rechtsgutsbeeinträchtigungen. Hier soll die Rechtswidrigkeit des Verhaltens eigens festgestellt werden müssen durch die Untersuchung, ob das Verhalten Verkehrspflichten verletzt hat. Man spricht insoweit auch von einer Verletzung der äußeren Sorgfalt. Mit der Feststellung, dass eine Verkehrspflicht, die äußere Sorgfalt, verletzt sei, soll auch noch Raum für die Schuldprüfung verbleiben. Nach der Feststellung der Verletzung der äußeren Sorgfalt müsse man nämlich weiter fragen, ob auch die innere Sorgfalt verletzt worden sei. Hier sei ein mehr täterbezogener Maßstab anzulegen.

Die Differenzierung von äußerer Sorgfalt und innerer Sorgfalt ist eine für das Zivilrecht unbegründete Konzession an die Dreistufigkeit des Prüfungsaufbaus. Da auch die innere Sorgfalt nach § 276 Abs. 2 BGB an objektiven Maßstäben auszurichten ist, könnte für sie nur dann Raum sein, wenn man die Verkehrspflichten der äußeren Sorgfalt weiter fasste als die Verkehrspflichten der inneren Sorgfalt. Dafür gibt es aber keinen vernünftigen Grund, wenn die Verkehrspflichten nicht vorher in abstrakter Form niedergelegt sind, sondern von Fall zu Fall durch richterliche Rechtsetzung begründet werden.

Die Unmittelbar/Mittelbar-Dichotomie begegnet uns im Recht gar nicht so selten. Häufig steht sie für noch nicht vollständig durchdachte Problemlösungen. Vor diesem Hintergrund sollte man ihr, wo immer sie auftritt, mit Skepsis begegnen. Damit ist indessen der Stab für die Verwendung in einem konkreten Bereich noch nicht gebrochen.

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© Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann. 
Bei Fragen und Unklarheiten wenden sich meine Studenten bitte an:
Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann.
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