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Alternative (hypothetische) Kausalverläufe

Die Unausweichlichkeit hypothetischer Erwägungen

Hypothetische Erwägungen sind in jeder Schadensermittlung angelegt, die zwei Zustände miteinander vergleicht und die festgestellten Unterschiede auf ein haftbar machendes Ereignis zurückführt. Selbst wer (wie Keuk S. 17) die Schadensermittlung nach der Differenzhypothese ablehnt und beim Vermögensabfluss (damnum emergens) lediglich die realen Zustände vor und nach dem Ersatzereignis vergleichen will, muss spätestens dann hypothetische Erwägungen anstellen, wenn er die reale Zustandsverschlechterung dem haftbar machenden Ereignis zurechnet. Der Schaden in der Erscheinungsform des nicht realisierten Gewinns kann ohnehin nur hypothetisch ermittelt werden (so auch Keuk a.a.O.) Vollends auf hypothetische Erwägungen verwiesen ist, wer - wie hier vorgeschlagen - in einem bestimmten Zeitpunkt nach dem Haftpflichtereignis den realen Vermögensstand des Berechtigten mit dem Vermögensstand vergleicht, "der bestehen würde, wenn der zum Ersatze verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre" (§ 249). Diese Regelung scheint die Berücksichtigung alternativer, hypothetischer Kausalverläufe zu gebieten. Dabei sind alternative, hypothetische Kausalverläufe dadurch gekennzeichnet, dass sie denselben Vermögensabfluss bewirkt bzw. denselben Vermögenszufluss verhindert hätten wie das Haftpflichtereignis, das ihnen "zuvorgekommen" ist.

Die Rechtsprechung zur hypothetischen Kausalität

Die Rechtsprechung lehnt die uneingeschränkte Berücksichtigung alternativer Kausalverläufe ab (Überblick bei Erman/Sirp § 249 Rz. 42 ff.). Schon das RG entschied, dass ein einmal eingetretener Schaden durch ein späteres Ereignis nicht mehr berührt werde, auch wenn dieses Ereignis zu demselben Schaden geführt hätte (RGZ 141, 365; 144, 80; 164, 177). Eine Ausnahme machte es lediglich, wenn im Falle der Erwerbsbeeinträchtigung ersatzweise eine Rente zu leisten war. Hier sollte das zweite, durch das erste nicht bedingte Ereignis, das ebenfalls zu einer Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit geführt hätte, die Rentenzahlungspflicht aus dem ersten Ereignis beenden. Der BGH hat Richtlinien entwickelt, die zu ähnlichen Ergebnissen führen (BGHZ 29, 207). Bei Ersatzansprüchen für die Zerstörung einer Sache hält er Umstände, die später denselben Erfolg herbeigeführt hätten, für "unerheblich, weil mit dem Eingriff sogleich der Anspruch auf Schadensersatz entstanden war und das Gesetz den späteren Ereignissen keine schuldtilgende Kraft beigelegt hat" (215). Dagegen seien spätere Ereignisse und ihre hypothetische Einwirkung auf den Ablauf der Dinge von Bedeutung für die Berechnung entgangenen Gewinns, die Ermittlung des Schadens aus fortwirkenden Erwerbsminderungen oder dem Ausfall ähnlicher langdauernder Vorteile. Schließlich möchte der BGH solche Umstände berücksichtigt wissen, "die bereits bei dem Eingriff vorlagen und notwendig binnen kurzem denselben Schaden verursacht hätten, weil derartige Umstände den Wert der Sache bereits im Augenblick des Eingriffs gemindert" hätten (Anlagefälle ).

Der gegliederte Schadensbegriff

In der Literatur votieren nur wenige für die uneingeschränkte Berücksichtigung alternativer, hypothetischer Kausalverläufe (v. Caemmerer, Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht, 1962; Lemhöfer JuS 66, 337; Lange § 4; MünchKomm, 3. Aufl./Grunsky vor § 249 Rdnr. 78 ff., 83 sowie 4. Aufl./Oetker, § 249 Rdnr. 207; Eike Schmidt § 10 IV 3). Die überwiegende Meinung folgt mit je abweichenden Begründungen dem BGH und belebt im Ergebnis den gegliederten Schadensbegriff des Gemeinen Rechts. Unter Berufung auf den Rechtsverfolgungsgedanken wird der (unmittelbare) Objektschaden gegen hypothetische Kausalverläufe immunisiert, während man bei (mittelbaren) Vermögensfolgeschäden - das sind insbesondere die nicht realisierten Gewinne - alternative Kausalverläufe schadensmindernd berücksichtigt (vgl. insb. Larenz SchuldR AT § 30 I; Palandt/Heinrichs Einf. v. § 249 Rz. 96 ff.; Keuk S. 89 ff.). Eine Sonderstellung nimmt Esser ein, der lediglich die Restitutions-, nicht aber die Kompensationsansprüche gegen die Berücksichtigung hypothetischer Schadensursachen sichern will (SchuldR AT 4. Aufl. § 46 III 1, aufgegeben in der von Eike Schmidt besorgten 5. Auflage § 33 IV 1. 1.)

Sämtliche Differenzierungen, die Rechtsprechung und Literatur zur Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe vorschlagen, finden keinen Rückhalt im Gesetz. Es mag dahinstehen, ob das Gesetz die uneingeschränkte Berücksichtigung hypothetischer Schadensursachen anordnet (so Lemhöfer JuS 66, 337). Jedenfalls steht deren Nichtberücksichtigung im Widerspruch zur Ausgleichsfunktion des Schadensrechts und muss deshalb abgelehnt werden. Die Bestrafung pflichtwidrigen Verhaltens ist nicht Aufgabe des zivilistischen Schadensrechts, mögen auch die Gerichte bisweilen andere Tendenzen erkennen lassen. Soweit etwa pflichtgemäßes Alternativverhalten (relevant allein bei Unrechtshaftungen) zu demselben Schaden geführt hätte, verpflichtet das pflichtwidrige Verhalten nicht zum Schadensersatz (ebenso MünchKomm- Grunsky vor § 249 Rz. 90). Wo dennoch Schadensersatz gewährt wird - wie in BAG 6, 325 wegen des 1956 einige Tage vor Ablauf der Friedenspflicht ausgerufenen Streiks in der Metallindustrie Schleswig-Holsteins - findet nicht Ausgleich, sondern (unzulässige) Bestrafung statt.

Echte hypothetische Kausalität und doppelte (reale) Kausalität

Einen neuen Akzent (mit zum Teil schon von Bydlinski, Probleme der Schadensverursachung, 1964, S. 65 ff. vorgeschlagenen Rechtsfolgen) hat Schulin in die Diskussion um die Berücksichtigung alternativer Kausalverläufe gebracht (S. 170 ff.). Schulin unterscheidet zwischen echter hypothetischer Kausalität und doppelter (realer) Kausalität. Echte hypothetische Kausalität nimmt er an, wenn eine weitere Kausalkette nur deshalb die Zustandsveränderung nicht herbeigeführt hat, weil diese schon auf Grund einer anderen Kausalkette eingetreten war. Die echte hypothetische Kausalität entlastet den aus der anderen Kausalkette an sich Haftpflichtigen, soweit die weitere Kausalkette nicht einen Ersatzanspruch gegen einen Dritten ausgelöst hätte. Dies entspricht der Schadensermittlung nach der Differenzhypothese. Von doppelter Kausalität spricht Schulin, wenn zwei voneinander unabhängige Kausalketten gleichzeitig hinreichende Bedingungen für den Eintritt einer nachteiligen Zustandsveränderung sind. In solchen Fällen sollen die haftpflichtigen Urheber der unabhängigen Kausalketten als Gesamtschuldner haften (so schon Bydlinski S. 114). Löst dagegen eine der unabhängigen Kausalketten keine Haftpflicht aus, soll der aus der anderen Kausalkette Haftpflichtige nicht frei ausgehen, sondern lediglich vermindert (seinem Anteil entsprechend) haften.

Die abstrakten Unterscheidungen lassen sich an einem Beispiel veranschaulichen, das auch ihre Kritikwürdigkeit deutlich macht: Ein professioneller Fußballspieler verliert durch ein von A zu vertretendes Haftpflichtereignis sein rechtes Bein. A muss dem Profi die entgehenden Einkünfte ersetzen. Hätte nun eine zweite Kausalkette ebenfalls zum Verlust des rechten Beins geführt (echte hypothetische Kausalität), brauchte A nur dann noch weiter zu zahlen, wenn die zweite Kausalkette die (nun nicht eintretende) Ersatzpflicht eines Dritten ausgelöst hätte. Andernfalls wird A frei. Verliert dagegen der Profi aufgrund einer zweiten Kausalkette sein linkes Bein, so sind die unabhängig voneinander eintretenden Beinverluste je für sich hinreichende Bedingungen für das Ausbleiben der lukrativen Profieinkünfte (doppelte Kausalität). Die herrschende Meinung entscheidet hier wie bei hypothetischer Kausalität; anders Schulin (S. 195 ff.): Ist ein Dritter verantwortlich für den Verlust des linken Beins, haftet zwar A weiter für die entgehenden Einkünfte, kann aber den Dritten im Wege des Gesamtschuldregresses auf dessen Anteil in Anspruch nehmen. Ist niemand für den Verlust des linken Beins verantwortlich, so wird A nicht frei, sondern muss von nun an in Höhe seines Anteils (im Zweifel zur Hälfte) die dem Profi entgehenden Einkünfte ersetzen.

Beide Abweichungen von der herrschenden Meinung sind nicht gerechtfertigt. Die zweite verfehlt den Ausgleichszweck des Schadensrechts, weil sie Ersatzansprüche auch dort gewährt, wo das Schicksal dem Profi die Einkünfte ohnehin genommen hätte. Dieser Vorwurf trifft die erste Abweichung nicht. Sie beruht indessen auf einer nicht begründeten Abkehr von dem das Haftpflicht- und Schadensrecht sonst beherrschenden Grundsatz, die Ersatzpflicht zum Vorteil wie zum Nachteil des Ersatzpflichtigen an die konkrete Lage des Ersatzberechtigten anzuknüpfen. Der für den Verlust des linken Beins Verantwortliche traf halt keinen Fußballprofi, sondern schon einen Beinamputierten an. Den Fußballprofi traf allein A. Er hat auch die Gesamtbelastung über das Eingreifen der zweiten Kausalkette hinaus zu tragen, soweit wegen dieser ein Dritter ersatzpflichtig geworden wäre. Die von Schulin favorisierte Gesamtschuldlösung greift allein dort, wo zwei oder mehrere Kausalketten hinreichende Bedingungen für die haftpflichtauslösende Erstverletzung sind - ein Problem der Haftungsbegründung. Im Bereich der Haftungsausfüllung und Schadensermittlung besteht kein Anlass, für die Behandlung alternativer, hypothetischer und doppelter Kausalität von der konsequenten Durchführung der Differenzhypothese abzugehen.

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© Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann. 
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