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Notwendigkeit und Grundlagen einer Schadensrechtsdogmatik

Die vielfältige und zum Teil widersprüchliche Kasuistik der höchstrichterlichen Rechtsprechung macht das Bedürfnis nach einheitlichen Richtlinien deutlich, ohne die weder Schadensrecht gelernt und konsistent angewandt noch schadensrechtliche Entscheidungen mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden können. Konsistenz ist eine Bedingung, der die Richtlinien genügen müssen, sachliche Angemessenheit die andere. Für sie kommen als Kriterien in Betracht: die Übereinstimmung der Richtlinien mit der gesetzlichen Konzeption des Schadensrechts und die sozialpolitische Erwünschtheit ihrer Folgen. Die Entwicklung solcher Richtlinien ist die Schadensrechtsdogmatik weitgehend schuldig geblieben. Die folgende Entwicklung der eigenen Position ist durch zahlreiche Gespräche mit Eike Schmidt gefördert worden. In der Betonung der Ausgleichsfunktion trifft sie sich mit der Konzeption Langes (Hermann Lange, Schadensersatz, Handbuch des Schuldrechts, Band 1, 2. Aufl. 1990).

Normativer oder natürlicher Schadensbegriff?

Eine in sich konsistente, den gesetzlichen Rahmen wahrende und sozialpolitisch angemessene Schadensdogmatik muss sich des Wirkungsbereichs und der Funktionen des Schadensrechts vergewissern. Dazu trägt der Hinweis, dass das deutsche Schadensrecht heute vom "normativen Schadensbegriff" lebe (Steindorff ZHR 138 (1974), 518), ebenso wenig bei wie der Aufruf, zu einem "natürlichen" oder "faktischen" Schadensbegriff zurückzukehren (Keuk VersR 1976, 401; Mertens, Der Begriff des Vermögensschadens im Bürgerlichen Recht, 1967, S. 121 ff.). Schon die Begriffswahl ist wenig erhellend, täuscht sie doch eine theoretische Einheit vor, die es weder bei den Naturalisten noch bei den Normativisten (vgl. Medicus JuS 1979, 233) gibt. Es geht auch in der Regel gar nicht um unterschiedliche Schadensverständnisse, sondern um unterschiedliche Vermögensverständnisse. Außerdem existiert kein von der Natur vorgegebener (und schon dadurch legitimierter) Schadens-(Vermögens-)begriff. Der könnte ja nur im empirisch feststellbaren Sprachgebrauch einer relevanten (welcher?) Sprechergruppe identifiziert werden. Die divergierende Verwendung des Schadensbegriffs allein unter den Juristen, die sich mit dem Schadensrecht befassen, macht indes deutlich, dass jede vorgeschlagene Schadens-(Vermögens-)bestimmung auf einer sprachlichen Festsetzung beruht, die als normative unter Aufdeckung ihrer Voraussetzungen und Folgen legitimiert werden muss (umfassende Darstellung der verschiedenen Schadensbegriffe bei Lange § 1).

Die Ausgleichsfunktion des Schadensrechts

Entscheidende Voraussetzung der im Folgenden zu umreißenden Schadensdogmatik ist die Ausgleichsfunktion des Schadensrechts. Nur soweit ein Ausgleich beim Verletzten durch Restitution in Natur oder Kompensation in Geld möglich ist, kann der (aus welchem Grund auch immer) Haftpflichtige zum Schadensersatz verpflichtet werden. Andere als Ausgleichszwecke (Prävention, Genugtuung, Sanktion und Buße für missbilligtes Verhalten) können sich nur im Rahmen möglichen Ausgleichs entfalten (vgl. MünchKomm/Oetker, § 249 Rdnr. 8). Dies ist die Konzeption des BGB (Tolk, Frustrierungsgedanke und die Kommerzialisierung immaterieller Schäden, 1977, S. 73 ff.). Das erhellt aus dem vom Verschuldensgrad unabhängigen Prinzip der Totalreparation einerseits und dem einheitlichen Schadensrecht für höchst heterogene Haftungsbegründungen andererseits. Man hat allerdings immer wieder versucht, das Ausgleichsprinzip zugunsten anderer Funktionen zurückzudrängen. Einer der folgenreichsten Versuche war die Propagierung der Rechtsverfolgungsfunktion. Denn sie löste letztlich die Normativierungsdebatte im Schadensrecht aus.

Die Rechtsverfolgungsfunktion

Die Rechtsverfolgungsthese ist nun insofern trivial und richtig, als sie den über das Haftungs- und Schadensrecht bewirkten Integritätsschutz beschreibt, nach dem Rechtsgutsbeeinträchtigungen zum Zwecke des Ausgleichs ersatzrechtlich verfolgt werden können. Sie steht auch insoweit noch auf festem Grund, als sie auf die im Rahmen der Restitutionspflicht gewährte Verfolgungsmöglichkeit unabhängig von Wert und Funktion des beeinträchtigten Guts in der Vermögensorganisation des Anspruchsberechtigten verweist. Problematisch wird es, wenn der Rechtsverfolgungsanspruch ein Gut betrifft, das nach der Disposition des Berechtigten ohnehin der äquivalentlosen Vernichtung anheim gegeben war (Zerstörung eines zum Abbruch vorgesehenen Hauses). Die Rechtsverfolgung führt schließlich vom Pfade der gesetzlichen Schadenskonzeption in die Irre, wenn im Kompensationsbereich Geldleistungen ohne eine nachweisbare Vermögensdifferenz gewährt werden. Das gilt für die Nichtberücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe und die Versagung des Vorteilsausgleichs ebenso wie für weite Bereiche der Entschädigung entgangener Nutzungsmöglichkeiten. Sie führen nicht zum Ausgleich, sondern zur Bereicherung, und Rechtsverfolgung steht insoweit für Genugtuung, Buße und/oder Prävention. Damit ist allerdings der Stab über den Rechtsverfolgungsgedanken noch nicht gebrochen. Es gilt zu überlegen, ob nicht Wandlungen im gesellschaftlichen Wirkungsbereich des Schadensrechts nach neuen Funktionsbestimmungen verlangen.

Der Wandel des Schadenstragungssystems und der Wirkungsbereich des zivilistischen Schadensrechts

Im individualistischen Schadenstragungssystem des BGB geht es um die Frage, welches von den an einem konkreten Schadensfall beteiligten Individuen den Schaden zu tragen hat. Seine Grundregel lautet, dass dies der Geschädigte sei, wenn nicht der Schädiger einen gerade für den Geschädigten eingreifenden Haftungstatbestand verwirklicht hat (Tatbestandsprinzip). Streitet ein Haftungstatbestand für den Verletzten, so tritt der Ausgleichsgedanke in Funktion. Dieses Schadenstragungssystem verfehlt die Realität (vgl. AK-BGB vor §§ 823 ff. Rz. 19 ff.). Es verstellt den Blick für die Einbettung der am Schadensfall beteiligten Individuen in ein immer enger geknüpftes Netz kollektiver Sicherungen gegen Schadens- und Haftpflichtrisiken, in ein komplexes Schadenstragungssystem mit einer Vielfalt von Vorsorge- und Versicherungseinrichtungen (s. hierzu Kötz, Sozialer Wandel im Unfallrecht, 1976). Diese sind mitbeteiligt an dem mehrfachen, je eigenen Gesetzen gehorchenden, Hin-, Weiter- und Zurückschieben der durch den Schadensfall entstandenen Belastungen bis zur Herstellung eines neuen Ruhezustandes (vgl. Medicus JuS 1972, 553). Soweit nicht wie für die aus nicht vorsätzlich herbeigeführten Arbeitsunfällen entstandenen Schäden das Haftungs- und Schadensrecht des BGB prinzipiell unanwendbar ist (vgl. Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, 1969), stellt sich die Frage nach der Funktion dieses Rechts in einem System, in dem es bei der Mehrzahl der Fälle nicht mehr darum geht, das ein Individuum treffende Unglück einem anderen zuzurechnen und auf es überzuwälzen. Kann man nicht in Anknüpfung an den Ausgleichsgedanken mit Fug geltend machen, das durch einen Verkehrsunfall verletzte Individuum, welches wegen des Eintretens der Krankenversicherung keine Behandlungskosten trägt, noch wegen des vom Arbeitgeber weitergezahlten Lohns eine Einkommenseinbuße erleidet, habe insoweit auch keinen Schaden erlitten? Nach derzeit weitgehend unangefochtener Auffassung kann man das nicht. Einig in der Wertung, dass der nach zivilrechtlichen Zurechnungskriterien haftpflichtige Verletzer nicht ungerupft davon kommen solle, bemüht man den "versagten Vorteilsausgleich" (Keuk VersR 1976, 402), um eine ausgleichungsfähige Lücke im Vermögen des Verletzten feststellen zu können, und denkt sich, wo der Gesetzgeber nicht mit der Anordnung von Legalzessionen (§ 116 SGB X, § 67 Abs. 1 VVG, § 6 EntgeltfortzahlungsG, § 87 a BBG u. a.), Abtretungskonstruktionen (§§ 255, 281) oder Überleitungsanzeigen (§ 90 BSHG) helfend eingesprungen ist, eine Vielzahl von Regresswegen aus (Selb, Schadensbegriff und Regressmethoden, 1973), die es den Versorgungsträgern ermöglichen, den ihnen entstandenen Schaden bei dem Schädiger respektive dessen Haftpflichtversicherer zu liquidieren.

Regresskonstruktionen und Ausgleichsfunktion

Die Berechtigung der im Vorsorgebereich allein durch Regresskonstruktionen aufrechterhaltenen Belastung des Verletzers wird kaum in Frage gestellt (verhaltene Kritik bei Horst Baumann Der Regress kollektiver Schadensträger im freiheitlichen Sozialstaat, 1977). Sie steht indessen auf tönernen Füßen. Der beim schlichten Zuhörer Zustimmung erheischende Satz, man wolle keinen Freibrief für unerlaubte Handlungen ausstellen (Selb), ist von der Annahme abhängig, dass die finanzielle Belastung in das Kalkül des potenziellen Verletzers eingeht und diesen von der Verletzungshandlung Abstand nehmen lässt. Das aber ist eine jedenfalls für nicht vorsätzlich verletzende Individuen völlig unrealistische Annahme (Weyers, Unfallschäden, 1971, S. 446 ff.), deren Gehalt bei der weit gehenden Haftungsübernahme durch Versicherungen im Verkehrsunfallrecht nicht gerade steigt. Wer denkt schon beim Autofahren ständig an das Bonus-Malus-System seiner Haftpflichtversicherung und lässt sich dadurch zur Schadensverhütung anleiten? Der Präventionsgedanke trägt gegenüber Individuen nicht. Der in diesem Zusammenhang gern beschworene Gedanke der Verantwortung ist, wenn er nicht Prävention meint, leer ( Weyers S. 547 ff.). Dem Gebot der Gerechtigkeit, den Verletzten nicht auf einem von einem anderen zu verantwortenden Schaden sitzen zu lassen, ist durch das Eingreifen des Vorsorgeträgers genügt. Ob die Gerechtigkeit verlangt, nun den bei diesem entstandenen Schaden durch den Verletzer ausgleichen zu lassen, ist im Hinblick auf die besseren Verteilungsmöglichkeiten beim Kollektiv fraglich. Der auf jeden Fall Kosten verursachende Regress erinnert schließlich an einen Schildbürgerstreich, wenn die Beitragspflichtigen in den Vorsorgesystemen und den Haftpflichtversicherungen weitgehend identisch sind (Kötz, S. 33 ff.; Weyers S. 598 ff.). Die Kosten belasten dann nämlich die Verletzten. Alles in allem geben die eher unbewusst eingeführten Regressmöglichkeiten im gewandelten Schadenstragungssystem keinen Anlass, die Ausgleichsfunktion des zivilistischen Schadensrechts zugunsten anderer Funktionen zurückzudrängen. Im Gegenteil: Angesichts der sozialen Einbettung eines konkreten Schadensfalls in durch Solidargemeinschaften getragene Schadens- und Haftpflichtübernahmesysteme stellt sich die Frage, ob es angemessen ist, die Liste der ersatzfähigen Positionen immer länger werden zu lassen und zu Lasten der Solidargemeinschaften einzelnen Geldleistungen auch dort zuzugestehen, wo ein in Geld messbarer Schaden nicht nachgewiesen werden kann.

Die Prävalenz der Ausgleichsfunktion

Mit dem Ausgleich als schadensrechtlicher Leitidee liegt es nahe, im Rahmen der gesetzlichen Ausgleichskonzeption die Differenzhypothese wiederzubeleben (a.A. MünchKomm, 3. Aufl./Grunsky vor § 249 Rz. 7; wie hier: MünchKomm, 4. Aufl./Oetker, § 249 Rdnr. 22). In der Konzeption des BGB kann der Ausgleich durch Restitution (§ 249) oder Kompensation (§§ 251, 252) bewirkt werden. Die Restitution genießt den Vorrang vor der Kompensation. Sie ist allerdings durch die Möglichkeit der Wiederherstellung in Natur begrenzt. Sobald diese entfällt, bleibt allein der Ausgleich durch Kompensation.

Grenzen der Restitution und Bedarfsschaden

Die Rechtsprechung hat die Grenzen der Restitution nicht immer beachtet und Restitutionsansprüche über den gesetzlich fixierten Restitutionsbereich hinaus gewährt. Dabei stützt sie sich auf das namentlich von Zeuner (AcP 163 (1963), 380) entwickelte Bedarfsschadensargument: Grundlage des Schadensrechts sei der durch das schädigende Ereignis entstandene Bedarf. Der Gläubiger könnte im Restitutionswege den für den Ausgleich des Bedarfs erforderlichen Geldbetrag verlangen (§ 249 Satz 2) und über ihn nach freiem Ermessen verfügen. Die Verfügungsmöglichkeit zu anderen Zwecken als der Bedarfsdeckung zeige, dass der Anspruch lediglich an die Bedarfsentstehung gebunden sei und durch einen Fortfall des Bedarfs nicht mehr berührt werde. Also, schließt man messerscharf, können die Kosten für ein Medikament auch dann noch verlangt werden, wenn der Verletzte inzwischen ohne das Medikament längst gesund geworden ist (BGH NJW 1958, 627), und die Nutzungsentschädigung rechtfertigt sich nach dem einmal entstandenen Nutzungsbedarf, mag das Auto auch längst repariert wieder zur Verfügung stehen und der Geschädigte seinen Bedarf nicht durch Anmietung eines Ersatzfahrzeugs gedeckt haben. Auch könne der Geschädigte selbst dann die fiktiven Reparaturkosten in Rechnung stellen, wenn er seinen reparaturbedürftigen Wagen bereits veräußert habe (so etwa BGHZ 66, 239, 242, NJW 1985, 2469; anders hat der BGH allerdings in BGHZ 81, 385, 390 entschieden: Hier ging es darum, dass ein Geschädigter sein Grundstück im unrepariertem Zustand veräußert hatte und dann noch Reparaturkosten verlangte - diese hat der BGH nicht zugesprochen). Verkannt wird dabei allerdings, dass nach ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung die Restitutionsansprüche des § 249 von der Restitutionsmöglichkeit abhängig sind (§ 251 Abs. 1). Diese entfällt mit dem Bedarf. Danach bleibt allein der Kompensationsanspruch, der den Nachweis eines in Geld messbaren Vermögensschadens verlangt. Wer auch ohne diesen Restitutionsansprüche in den Kompensationsbereich verlängert, mag zu seinen Gunsten anführen, dass er den Schuldner nicht für Leistungsverzögerungen belohnen möchte (Grunsky, S. 21; MünchKomm,Oetker, § 249 Rdnr. 351, der indes das Bedarfsschadensargument nur bei Sachschäden und nicht bei Körperverletzungsschäden anerkennt (vgl. Rdnrn. 353 bis 360; BGH 45, 212 ff., 216 f.). Er beruft sich damit aber auf ein dem Ausgleichsdenken fremdes Argument, das zudem auf schwachem Fundament steht. Denn der Gläubiger hätte seinen Bedarf ja seinerseits decken und den Schuldner unbeschadet jeder Verzögerung mit den Kosten belasten können. Die Kosten bleiben auch nach erfolgter Restitution und werden bei der Differenzermittlung berücksichtigt (vgl. auch Lange § 5 IV 6). 

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© Prof. Dr. Dr. h.c. Helmut Rüßmann. 
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